Handicap-Familie: "Was Besseres konnte uns nicht passieren"

Bernadette Gradl und Ulrich Ochs sind beide behindert – und haben trotzdem eine Familie gegründet. Geht das? Klar, sagen die beiden.
Nina Job |
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Mit dem Papa fast schon auf Augenhöhe: Ulrich Ochs mit seinem gut zweijährigen Sohn Raphael.
Nina Job 2 Mit dem Papa fast schon auf Augenhöhe: Ulrich Ochs mit seinem gut zweijährigen Sohn Raphael.
Mama Bernadette und Raphael beim abendlichen Rumtoben.
Nina Job 2 Mama Bernadette und Raphael beim abendlichen Rumtoben.

München - Der kleine Bub mit dem dicken Windelpopo steht erwartungsvoll vor seiner Mutter. Bernadette Gradl sitzt im Rollstuhl. Sie greift mit eckigen Bewegungen nach einer Musikkassette, steckt sie in den Recorder. Dann beugt sich die zarte Frau zu ihrem zweieinhalb Jahre alten Sohn, streckt ihm ihre Hände mit den verkrampften Fingern entgegen. Raphael greift fröhlich danach. Mutter und Sohn beginnen, sich zu der Kindermusik zu bewegen.

Tanzen kann man auch im Rollstuhl. Bernadette Gradls Blick ruht liebevoll auf ihrem Sohn. Für einen Augenblick ist ihr schmales Gesicht, das sonst oft verzerrt ist, vollkommen entspannt. Raphael lacht und hüpft an den Händen seiner Mutter umher. Bernadette Gradl ist Tetraspastikerin. Ihre Bewegungen sind unkontrolliert, sie kann nur mit großer Mühe sprechen, auch das Schlucken fällt ihr schwer. Die Münchnerin leidet unter Zerebralparese. Ein Sauerstoffmangel im Mutterleib oder während der Geburt hat die Krankheit verursacht. Die 37-Jährige ist schwerbehindert – und trotzdem Mutter.

Raphael mag jetzt nicht mehr tanzen. Er war den ganzen Tag in einer integrativen Kinderkrippe in Sendling und ist müde. Der Kleine klettert auf den Schoß seines Vaters, blättert in einem Bilderbuch. Ulrich Ochs ist erst kurz vor ihm nach Hause gekommen. Der 52-Jährige arbeitet im Landesamt für Denkmalpflege. Auch Vater und Sohn gelten als behindert – sie sind kleinwüchsig. „Wir sind eine kleine Handicap-Familie, die jeden Tag Freude hat“, sagt Ulrich Ochs stolz. „Meine Berni ist die tollste Frau und unser Sohn ist unser ganzes Glück.“

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Die beiden hatten sich über eine Partnerbörse für Behinderte kennengelernt. Damals lebte Ulrich Ochs noch in Karlsruhe. Am Anfang kommunizierten sie fast ausschließlich per Email. Trotz ihrer spastisch verkrümmten Finger fällt es Bernadette Gradl wesentlich leichter, zu tippen als zu sprechen. Schon als Kind war das Schreiben ihre liebste Form, sich mitzuteilen. Die gebürtige Altmühltalerin hat zwei Bücher veröffentlicht, einen Gedichtband und mit „Die Liebe der Unperfektheit“ einen Roman, in dem sie sich für gleiche Rechte für alle Menschen einsetzt.

Als sich Gradl und Ochs das erste Mal trafen, fuhr sie im Rollstuhl zum Hauptbahnhof, um ihn abzuholen. Ulrich Ochs war mit dem Zug aus Karlsruhe angereist. Es war eine unvergessliche Begegnung für beide, mitten im Bahnhofstrubel. Obwohl sie saß, überragte sie den Mann, der aus dem Zug stieg. „Und ich hatte bis dahin noch nie Kontakt gehabt zu einem Spastiker“, erinnert er sich. „Das war schon ungewohnt. Aber ich habe gleich gespürt, dass da was war zwischen uns.“ Bernadette und Ulrich kamen sich näher, verliebten sich ineinander. „Am Anfang hatte ich Bedenken, weil ich 14 Jahre älter bin als Berni. Doch uns ging es schon bald so, dass wir nicht mehr ohne einander leben wollten“, erzählt er. Der 52-Jährige postete sein Glück für die ganze Welt lesbar auf Facebook: „Berni ist mein Glück, meine Wärme, meine Freude, mein großes Erfülltsein.“

 

Die Blicke der Leute sagen: Ein Kind? Das dürft ihr nicht!

 

Mit der Liebe entwickelte sich allmählich auch der große Wunsch nach einem gemeinsamen Kind. Mit anderen sprachen sie nicht darüber. „Wir wollten uns nicht reinreden lassen“, sagt sie. „Es tut weh, wenn dir Menschen vermitteln, dass du das eigentlich nicht darfst, weil du behindert bist“, ergänzt er.

So empfinden sie es heute manchmal, wenn sie zu dritt unterwegs sind. Es offen auszusprechen, wagt kaum jemand. Doch auch Blicke können sehr verletzen. „Meine Frau erträgt das mit mehr Gelassenheit. Das liegt vielleicht daran, dass sie schon mehr negative Erfahrungen gemacht hat“, meint Ulrich Ochs.

Es ist erst ein paar Monate her, da wurde sie von einem Busfahrer auf übelste Art und Weise beleidigt. „Er hat zu mir gesagt: ,So jemand wie du gehört erschossen’“. Ulrich Ochs ärgert sich häufiger als seine Frau, wenn die Leute beleidigend reagieren: „Die ganze Welt redet von Toleranz, aber im konkreten Fall ist es dann nicht weit her damit.“ Bevor Bernadette Gradl schwanger wurde, fürchtete sie vor allem, dass sich ihre Spastik verschlimmern könnte. „Und ich hatte Angst, dass ich mich nicht mehr alleine versorgen kann aufgrund des Gewichts und der ohnehin schon vorhandenen Behinderung.“ Ulrich Ochs ängstigte sich auch um seine Frau: „Ich wollte die 100-prozentige Gewissheit, dass ihr nichts passieren kann!“

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Über die „Netzwerkfrauen Bayern“, einem Zusammenschluss von und für Frauen mit Behinderung, fand Bernadette Gradl eine Gynäkologin, die sich auf die Bedürfnisse von behinderten Frauen spezialisiert hat. Professor Gerlinde Debus leitet eine Spezialambulanz in der Frauenklinik der Heliosklinik in Dachau. Sieben Jahre lang hatte die heute 64 Jahre alte Ärztin gekämpft, bis sie die Zulassung bekam. Mittlerweile kommen jede Woche fünf Frauen mit Handicap zu ihr. Das sind rund 200 bis 250 Frauen im Jahr. Nach dem Vorbild dieser Ambulanz wurden mittlerweile drei weitere in Deutschland gegründet.

Bei der Ärztin fand das Paar fachliche Unterstützung und menschliche Beratung. „Sie hat uns unsere Ängste genommen und sogar ermutigt, ein Kind zu bekommen“, erzählt Gradl.

Für die werdenden Eltern war klar, dass ihr Kind die Behinderung der Mutter nicht erben konnte, die Kleinwüchsigkeit des Vaters allerdings schon. Doch das spielte für sie keine Rolle. „Wir hätten noch alle möglichen Untersuchungen machen können. Aber das wollten wir nicht. Wir haben beschlossen: Was kommt, das wird genommen!“ Beide schauen liebevoll zu ihrem kleinen Sohn. Die Schwangerschaft war sehr anstrengend für die junge Frau mit der schweren Behinderung. Ihr war dauernd schlecht, sie musste sich oft erbrechen. Die extrem schlanke Gradl wurde immer weniger. „Ich habe immer gesagt, die Schwangerschaft frisst sie auf“, erinnert sich die Ärztin. Eine Woche vor der Entbindung musste Bernadette Gradl stationär im Krankenhaus aufgenommen werden, wo sie Astronautennahrung bekam, damit sie überhaupt etwas bei sich behielt.

Dann kam Raphael per Kaiserschnitt zur Welt. „Ich hab‘ geweint, als ihn mir die Ärztin in die Arme legte. So ein süßes, schönes Baby!“, erzählt Berni Gradl. Ihr Mann war im Kreißsaal dabei. „Ich kann diesen Moment gar nicht in Worte fassen. Ich dachte nur, jetzt ist es Wirklichkeit, ein kleiner Mensch, der lebt, schreit und in meinen Armen liegt.“

Ein paar Tage später stellten die Ärzte fest, dass Raphael typische Merkmale für Kleinwuchs aufwies. „Als ich es erfuhr, dachte ich nur: Na und? Er ist eben was Besonderes“, erinnert sich Ochs. „Für uns war es unglaublich schön, was der Arzt dann sagte. Er meinte: ,Dem Raphael kann ja gar nichts Besseres passieren, als dass sein Papa auch klein ist.‘ Das fand ich toll, einfach lebensbejahend.“

 

In der Kinderkrippe wird der kleine Raphael speziell gefördert

 

Mittlerweile ist aus dem Baby ein Kleinkind voller Tatendrang und Entdeckungsfreude geworden. Bernadette Gradl kann ihn aufgrund ihrer Behinderung nicht alleine versorgen. Das Meiste übernimmt Raphaels Vater: Ulrich Ochs steht morgens halb fünf auf, wickelt und versorgt den Kleinen, bevor er in die Arbeit geht.

Um zehn vor sieben kommt der Fahrer, der Raphael in die Krippe bringt, wo er speziell gefördert wird. Um 17 Uhr bringt ihn der Fahrer wieder nach Hause. Die Kosten für die Fahrt und die medizinische Versorgung übernimmt der Bezirk Oberbayern aufgrund von Raphaels Behinderung.

Ulrich Ochs arbeitet Teilzeit, seitdem er Vater ist. Er hat seine Arbeitszeit im Landesamt für Denkmalschutz auf 30 Stunden reduziert. Zwei Frauen aus der Nachbarschaft, darunter eine Krankenschwester, helfen der kleinen Familie regelmäßig im Haushalt und auch mit der Betreuung von Raphael.

Schwierig wird es allerdings, wenn der Bub krank ist. Dem Vater stehen im Jahr zehn Tage Krankengeld für die Betreuung zu. Einem alleinerziehenden Elternteil stehen 20 Tage zu. Ochs fühlt sich, was die Pflege seines kranken Kindes betrifft, ebenfalls alleinerziehend, da seine Frau Raphael unmöglich alleine versorgen kann. So muss die Familie dann privat Hilfe organisieren. Manchmal wünschen sich die Eltern etwas weniger Bürokratie.

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Das Leben als behinderte Familie mit Kind – es ist oft anstrengend. „Ich erlebe das Muttersein schon auch als große Anspannung“, räumt Gradl ein. „Aber es gibt immer wieder auch leichte Momente, und wir wachsen als Familie zusammen. Das habe ich zuvor noch nie so erleben können. Es geht immer weiter. Und man wächst dabei.“

Beide Eltern wünschen sich vor allem eines: dass Raphael normal aufwächst. „Er wird sicher auch gehänselt werden. Aber er ist von seinem Naturell her sehr positiv. Er soll keinen Sonderweg einschlagen und er soll nicht immer nur unter Behinderten sein“, sagt Ochs.

Es ist Abend geworden. Zeit für Raphael ins Bett zu gehen. Seine Mutter zieht ihn zu sich auf den Schoß, fährt mit ihm in ihrem Rollstuhl in sein Zimmer. Mühsam hievt sie ihn in sein Gitterbettchen. Alleine herausheben kann sie ihn nicht.

Raphael schreit, er will nicht schlafen. Geduldig streichelt die Mutter ihren kleinen Sohn durch die Gitterstäbe, bis er zur Ruhe kommt. „Manchmal scherzen wir auch noch ein bisschen.“ Dann legt sie sich neben ihn in ein zweites Bett im Kinderzimmer. Dort bleibt sie jeden Abend so lange, bis er eingeschlafen ist. „Das ist unser tägliches Zubett-Geh-Ritual.“

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