Familie des Verurteilten im AZ-Interview: "Ein Justiz-Skandal"

Vor zehn Jahren wird die Parkhaus-Erbin Charlotte Böhringer in ihrem Penthouse ermordet. Ihr Neffe Benedikt „Bence“ Toth sitzt dafür im Gefängnis. Die Familie glaubt bis heute an seine Unschuld.
Natalie Kettinger |
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"Wir hoffen auf Gerechtigkeit": Vater Bence Senior und Bruder Mate Toth vor der Tankstelle, die zum Parkhaus an der Baaderstraße gehört.
nk "Wir hoffen auf Gerechtigkeit": Vater Bence Senior und Bruder Mate Toth vor der Tankstelle, die zum Parkhaus an der Baaderstraße gehört.

München - Dieser Fall sorgt noch immer für Diskussionsstoff: Am 15. Mai 2006 wird die reiche Witwe Charlotte Böhringer († 59) im Penthouse über ihrer Parkgarage erschlagen. Einen Tag später wird die Leiche entdeckt – und keine 48 Stunden später der Lieblingsneffe der Millionärin festgenommen: Benedikt „Bence“ Toth (heute 41).

Obwohl er die Tat stets bestreitet, wird Toth 2008 in einem umstrittenen Indizienprozess zu lebenslanger Haft verurteilt. Er soll seine Tante umgebracht haben, um zu vertuschen, dass er sein Jura-Studium abgebrochen hatte und damit die von Böhringer gewünschte Voraussetzung für die Übernahme des lukrativen Parkhauses nicht mehr erfüllte.

Benedikt Toths Familie glaubt bis heute an seine Unschuld – und kämpft seit zehn Jahren für seine Freilassung. Die AZ hat Vater Bence Senior (68) und Bruder Mate Toth (38) getroffen.

AZ: Welche Erinnerung haben Sie an den 16. Mai 2006, also an den Tag, an dem Charlotte Böhringer in ihrer Wohnung gefunden wurde?

BENCE TOTH: Das war ein Dienstag. Ich bin gegen 19 Uhr von der Schwimmschule nach Hause gekommen. Gegen 20 Uhr hat Bence angerufen. Er war ganz verwirrt und hat immer wieder gesagt: „Es ist etwas ganz, ganz Schlimmes passiert.“ Meine Frau und ich haben uns sofort ins Auto gesetzt und sind zum Parkhaus gefahren. Dort waren schon ein paar Freunde von Charlotte, ihr Arzt, die Polizei. Alles war abgesperrt. Wir durften nicht rauf zur Wohnung. Dann habe ich meinen Sohn Bence gesehen: Er saß vor dem Tankstelle-Laden auf der Stufe und zitterte wie bei einem Schüttelfrost. Wir waren total schockiert.

MATE TOTH: Ich hatte an diesem Abend Spätdienst im Parkhaus. Als ich ankam, haben mir die Frühschicht und der Wagenpfleger gesagt: Es gibt nichts Besonderes, aber wir erreichen die Chefin schon den ganzen Tag nicht. Ich bin dann irgendwann rauf aufs Dach, um zu sehen, ob man durch die Fenster etwas erkennen kann. Aber von außen konnte man nichts sehen und die Fenster waren alle verschlossen. In der Zwischenzeit war mein Bruder angekommen.

Ihr Tod jährt sich am 15. Mai zum zehnten Mal: Charlotte Böhringer wurde durch etliche Schläge auf den Kopf getötet. Foto: AZ-Archiv

Er hat die Tote entdeckt.

M.T.: Ja, wir hatten den stellvertretenden Geschäftsführer herzitiert, weil er den Schlüssel zum Büro hatte, wo wiederum der Schlüssel zur Wohnung lag. Er ist mit Bence raufgegangen. Mein Bruder hat unsere Tante im Eingangsbereich gefunden, sich neben sie gekniet und sie auf Lebenszeichen kontrolliert. Als er wieder runter kam, stand er unter Schock, hatte rot unterlaufene Augen und hat immer wieder gesagt: „Es ist zu spät. Sie ist schon ganz kalt.“

Lesen Sie hier: Benedikt Toth: "Ich bin kein Mörder"

War Ihnen sofort klar, dass sie ermordet worden ist?

M.T.: Nein. Sie hatte vor der Marmortreppe zum Eingangsbereich einen Teppichläufer liegen. Wenn man schnell angelaufen ist und versucht hat, auf diesem Teppich zu bremsen, war quasi vorprogrammiert, dass man die Treppe damit hinunterstürzt. Wir haben ihr so oft gesagt: Dieses Ding ist da absolut fehl am Platz. Es hätte also auch sein können, dass sie gestürzt ist.

Was haben Sie gedacht, als feststand, dass Charlotte Böhringer umgebracht wurde? Hatten Sie einen Verdacht?

B.T.: Wir waren sprachlos, verwirrt, ohnmächtig. Charlotte hatte zwar nur wenige Freunde – aber viele Bekannte. Deshalb schien die Palette anfangs sehr breit. Nach dem Prozess blieben vier oder fünf Personen übrig, bei denen wir es für möglich halten, dass sie etwas damit zu tun haben. Aber die Polizei hat ja von Anfang an nur in eine einzige Richtung ermittelt: in Richtung Bence Toth.

Ihr Sohn wurde am 18. Mai 2006 festgenommen.

B.T.: Er war als Zeuge bei der Polizei – und plötzlich wurde er zum Beschuldigten. Er war so naiv! Er hat seinen Anwalt Peter Witting weggeschickt! Schickt ein Mörder seinen Anwalt weg, wenn er Hilfe braucht? Nein! Bence wollte an diesem Abend um 19 Uhr Freunde treffen. Um 21.30 Uhr hat er weinend angerufen: Mama, ich werde nicht freigelassen. Was kann ich tun? Da wurde es ganz, ganz dunkel um uns. Damit hatten wir nicht gerechnet.

Was geht in diesem Moment in einem vor?

M.T.: Dass sich alles aufklären wird – das haben wir uns bis zur Verhandlung gedacht und denken es heute noch. Anhand der Aktenlage wird ganz deutlich: Er kann es nicht gewesen sein und das hat der Richter auch gewusst. Deshalb erleben wir hier keinen Justiz-Irrtum, sondern einen Justiz-Skandal.

Was macht Sie so sicher, dass Ihr Bruder unschuldig ist?

M.T.: Ich muss zugeben: In den ersten Tagen nach dem Mord hätte ich nicht beantworten können, ob es mein Bruder gewesen ist oder nicht. Aber ich habe an etwa 80 Verhandlungstagen teilgenommen, und vor Gericht hat sich herausgestellt, dass die Polizei viel zu schnell gehandelt hat. Dass der Chef der Mordkommission sich auf etwas festgelegt hat, was dann immer weitergesponnen wurde.

B.T.: Dass Bence meine Schwägerin umgebracht hat, ist ausgeschlossen. Wir haben 20 Jahre mit ihm zusammengelebt. Er ist nicht so ein Typ, der seine Kräfte zeigt. Er ist nicht so erzogen worden. Er ist feiner, viel, viel feiner.

Beteuert bis heute seine Unschuld: Benedikt „Bence“ Toth wurde drei Tage nach dem Mord festgenommen. Foto: privat

Wussten Sie, dass er sein Studium abgebrochen hatte?

B.T.: Nein. Er war oft bei uns und hat gerne mit der Mama geplaudert, aber über das Studium hat er fast nie geredet.

M.T.: Ich auch nicht. Aber viel wichtiger ist doch, dass meine Tante wusste, dass er nicht mehr studiert. Mehrere mit unserer Tante bekannte Zeugen haben ausgesagt, dass sie mit ihnen über den Studienabbruch gesprochen hat. Dementsprechend ist das Tatmotiv der Staatsanwaltschaft im Gerichtssaal weggefallen. Wir haben uns schon gefreut und gedacht: Morgen sagt der Richter, das Motiv ist weg, wir müssen das hier jetzt beenden. Aber der Richter hat das Motiv einfach weiterhin benutzt – und die Zeugen genau gegenteilig im Urteil wiedergegeben. Komplett falsch.

Wie hat diese Tragödie Ihr Leben verändert?

M.T.: Meine Mutter kann bis heute nicht öffentlich darüber sprechen. Deshalb ist sie heute nicht mitgekommen. Das würde sie nicht verkraften. Normalerweise kommen und gehen Leute im Leben – in unserem Fall sind nur Leute gegangen.

B.T.: Wir hatten jahrzehntelang einen sehr großen Bekannten- und Freundeskreis. Jetzt pflegen wir nur noch mit zwei, drei Familien regelmäßigen Kontakt. Manche melden sich noch per E-Mail. Sie rufen aus Rücksicht nicht an, weil sie wissen, dass meine Frau sehr schwach ist. Sie wollen taktvoll sein. Früher waren wir am Wochenende nie zuhause. Jetzt sind wir es fast immer. Viele wollen das Thema nicht erwähnen, aber man kann es nicht einfach ausschließen. Das ist schwierig.

Wie oft sehen Sie Ihren Sohn in der JVA Straubing?

B.T.: Zwei oder drei Mal pro Monat. Er hat fünf Stunden Besuchszeit pro Monat. Damit die Freunde auch kommen können, gibt es einen Doodle-Kalender, in den sich jeder einträgt. Seit zehn Jahren haben wir keine einzige Minute verfallen lassen. Wir haben die Zeit immer genutzt und so wird es bleiben. Hoffentlich nicht mehr für lange.

Bences Freundeskreis steht also weiter hinter ihm?

M.T.: Ja. Sie sind alle weiterhin für ihn da und kämpfen für seine Freilassung. Die regelmäßigen Besucher sind allerdings weniger geworden.

Wie fühlt es sich an, das eigene Kind im Gefängnis zu besuchen?

B.T.: Daran werde ich mich nie gewöhnen, an diese innere Anspannung. Obwohl wir das schon so oft getan haben, wird es nie ein alltägliches Gefühl werden. Auf der Hinfahrt sind wir alle vertieft in Gedanken, wir reden kaum. Dann kommt die Besuchsstunde – und Bence muntert uns auf. Auf dem Rückweg sind wir dann offener und manchmal freuen wir uns sogar.

Hat die Haft Bence verändert?

B.T.: Sehr. Er vertieft sich in Philosophie, liest Nietzsche und Schopenhauer. Freiwillig. Dazu lernt er Japanisch und spricht Spanisch mit einigen der anderen Gefangenen. Er beschäftigt sich, aber er ist auch ein Dickkopf. Er war immer eine Persönlichkeit, aber jetzt hat er in sich so eine Trotzreaktion aufgebaut: Er kämpft für Gerechtigkeit für sich, aber auch für andere Häftlinge – deshalb respektieren sie ihn dort. Er hat Rückgrat – manchmal zu viel.

Wie wird diese Geschichte enden? Die juristischen Möglichkeiten sind ausgeschöpft, das Bundesverfassungsgericht hat Anfang Mai eine erneute Prüfung des Urteils abgelehnt.

B.T.: Wir hoffen, dass die Gerechtigkeit mit Hilfe der Politik zur Geltung kommt. Einige Politiker beschäftigen sich jetzt ernsthaft mit dieser Tragödie. Vielleicht endet es wie bei Gustl Mollath. Es kann doch nicht ewig so weitergehen – mit einer Lüge.

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