"Eine bewusste Irreführung": Die Münchner Ökostrom-Lüge
München - Im Januar dieses Jahres vermeldeten die Münchner Stadtwerke einen großen Erfolg: "Innerhalb von nur zwölf Jahren" hätten sie es geschafft, "den Ökostrom-Anteil für München von 5 Prozent auf 90 Prozent zu steigern!"
Die frohe Botschaft verbreitete sich rasch. "Bereits 2022 90 Prozent Ökostrom aus Erneuerbaren Energien", schrieben viele Zeitungen. "Wir sind natürlich schon sehr stolz, dass wir es pünktlich erreicht haben", sagte SWM-Vorsitzender Florian Bieberbach in einem eigens produzierten Werbefilm über das "Etappenziel". Und auf ihrer Homepage bilanzierten die Stadtwerke: "2022 – ein bedeutendes Jahr für München!"
München, Vorzeigestadt für Erneuerbare Energien. Könnte man meinen. Zumindest, wenn man nicht auf die Stromkennzeichnung der Münchner Stadtwerke schaut. Denn der zufolge beträgt der Anteil an Ökostrom für die Münchner Haushaltskunden der SWM nur 65 Prozent.

65 Prozent Ökostrom für die Kunden der Münchner Stadtwerke – aber 90 Prozent Ökostrom für München? Wie passt das zusammen?
Anruf bei Horst Wawrzyn. Er ist Mathematiker und Mitglied des Netzwerks "Saubere Energie München". In den letzten Monaten hat er sich viel mit der Energiepolitik der Stadtwerke befasst, hat die Geschäftsberichte ausgewertet und Angaben darüber zusammengetragen, wie viel Erneuerbare Energien – und wie viel fossile – die Stadtwerke erzeugen.
Er sagt: "Was die Münchner Stadtwerke betreiben, ist eine bewusste Irreführung von allen Menschen, die sich ein Ende der fossilen Energie-Erzeugung wünschen." Denn: Die 6,3 Gigawatt Ökostrom, auf die sich die SWM in ihren Bekanntmachungen beziehen, haben mit den Münchnern nichts zu tun. Weder werden sie in das Münchner Stromnetz eingespeist, noch werden sie in München produziert.
Die Stadtwerke besitzen Kraftwerke auch in Polen, Norwegen oder Finnland
Wirft man einen Blick auf den Strom, den die Stadtwerke innerhalb Münchens produzieren, kommt man vielmehr auf einen Anteil von gerade Mal 6,85 Prozent Erneuerbaren Energien.
Um zu verstehen, was tatsächlich hinter den Verlautbarungen von "90 Prozent Ökostrom für München" steckt, ist es nötig, einen Blick auf die Struktur der Stadtwerke zu werfen. Seit 1998 der Strommarkt liberalisiert wurde, sind die Stadtwerke eine GmbH. Sie agieren wie ein privates Unternehmen, gehören aber zu 100 Prozent der Stadt München. Die Stadtwerke besitzen Kraftwerke in München und Deutschland, aber auch beispielsweise in Polen, Norwegen und Finnland. Rechnet man die zahlreichen Projekte zusammen, an denen die SWM beteiligt sind, so produziert der Konzern weltweit aktuell rund zwölf Terawattstunden Strom im Jahr. Das ist weit mehr, als ganz München innerhalb eines Jahres verbraucht.
Weltweit gesehen produzieren die SWM 6,3 Terawattstunden Ökostrom
Knapp die Hälfte dieses Stroms stammt aus Erneuerbaren Energien. Und hier setzen nun die Stadtwerke mit ihrer Rechnung an: Denn weltweit gesehen produzieren die SWM 6,3 Terawattstunden Ökostrom. Diese Zahl vergleichen sie nun mit dem Stromverbrauch Münchens, der sieben Terawattstunden beträgt. Das Ergebnis: Die Menge an Erneuerbaren Energien, die die Stadtwerke weltweit produzieren, entspricht der Menge an Energie, die 90 Prozent der Münchner Haushalte und Unternehmen innerhalb eines Jahres verbrauchen.
Darauf beziehen sich also die Stadtwerke in ihrer Formulierung, der "Ökostrom-Anteil für München" würde 90 Prozent betragen. Dass diese Energie weder in München produziert, noch ins Münchner Netz eingespeist wird, fällt in den Verlautbarungen des Konzerns dabei aber oft unter den Tisch.
SWM: "Jede regenerativ erzeugte Kilowattstunde macht den europäischen See sauberer"
Ist das legitim? Die SWM finden: ja. Denn: Letzten Endes sei es egal, wo der Ökostrom produziert wird. Auf ihrer Homepage vergleichen sie das europäische Stromnetz mit einem See. "Jeder, der Strom erzeugt, speist in diesen "Strom-See" ein; jeder, der Strom verbraucht, entnimmt etwas", heißt es dort. "Jede regenerativ erzeugte Kilowattstunde macht also den europäischen See sauberer."
Horst Wawrzyn überzeugt das nicht. "Mit diesem Argument könnte auch RWE damit werben, dass sie 459 Prozent Ökostrom für München produzieren", sagt er. "Die besitzen nämlich auch Windkraftwerke im Ausland - und zwar mehr als die SWM." Er und seine Mitstreiter finden: Was es bräuchte, wäre ein stärkerer Fokus auf den Ausbau Erneuerbarer Energien in München.
Jagel über die SWM: "Die Unternehmensverflochtenheit ist zu hoch"
Stadtrat Stefan Jagel (Linke) sieht das ähnlich: "Das Grundproblem ist, dass die Stadtwerke zunehmend als globaler Energiekonzern agieren, statt als lokaler Versorger", sagt er. Natürlich sei es nicht möglich, den gesamten Strombedarf Münchens aus Ökostrom-Anlagen innerhalb der Stadt zu decken. "Aber es ist eben ein Unterschied, ob die Energie 100 Kilometer entfernt von hier produziert wird – oder irgendwo in einem Windpark in Norwegen."
Statt die regionale Versorgung auszubauen, hätten die Stadtwerke in den letzten Jahren eine unüberblickbare Zahl an Projektgesellschaften geschaffen, über die die globalen Investitionen verwaltet werden. Für Jagel ist das auch ein demokratisches Problem. Denn eigentlich unterliegen die SWM der Kontrolle durch den Stadtrat. Aber Jagel sagt: "Es ist faktisch unmöglich, zu kontrollieren, was da passiert, weil niemand mehr einen Überblick über die Aktivitäten haben kann. Dafür ist die Unternehmensverflochtenheit zu hoch."
Solarenergie mit größtem Potenzial für Ausbau der Ökostrom-Produktion in München
Für Jagel gibt es einen Zusammenhang zwischen den globalen Investitionen der SWM und dem schleppenden Ausbau der Erneuerbaren in und um München. "Es war eine strategische Entscheidung, lieber in Anlagen außerhalb Deutschlands zu investieren, als die Erneuerbaren innerhalb der Stadt auszubauen", sagt er. "Die Regierungskoalition hätte beispielsweise schon vor Jahren eine Solarpflicht für städtische Gebäude beschließen können. Aber man hat sich dagegen entschieden."
Tatsächlich gehen verschiedene Studien davon aus, dass die Solarenergie das größte Potenzial für den Ausbau der Ökostrom-Produktion innerhalb der Stadt bietet. Bei einer "sehr ambitionierten Weiterentwicklung der (landes)rechtlichen und kommunalen Rahmenbedingungen" sei es sogar möglich, bis zu 25 Prozent des Münchner Strombedarfs aus Solaranlagen innerhalb der Stadt zu decken, heißt es in einer Studie des Hamburger Instituts aus dem Mai 2020.
Diese Weiterentwicklung sei jedoch für Bayern "noch nicht erkennbar". Dass der Ausbau der Erneuerbaren in der Stadt nur langsam vorankommt, liegt also nicht in erster Linie an den Stadtwerken. Eines macht die Formulierung jedoch klar: Bis 90 Prozent des Stroms in München aus Erneuerbaren produziert werden können, ist es noch ein weiter Weg.
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