"Haut ab, haut ab!": Demonstrationen vor Stadtbibliothek bei Dragqueen-Lesung in München
München - Die Münchner Dragqueen-Debatte bleibt eine Geschichte mit vielen Volten. Zur Erinnerung: Die Stadtbibliothek hat für den heutigen Dienstag (13. Juni) in Bogenhausen eine Lesung für Kinder im Programm. Es liest unter anderem eine Dragqueen mit dem Künstlernamen "Big Clit Eric" (dt. Große Klitoris Eric) Kinderbücher vor.
Dies hatte CSU-Stadtrat Hans Theiss auf den Plan gerufen und OB Dieter Reiter (SPD) empört. Nach einem Proteststurm gegen die beiden distanzierte sich die CSU-Fraktion ein bisserl von Theiss und Reiter wollte plötzlich ganz missverstanden worden sein und entschuldigte sich.
Demonstranten werden laut: "Ganz München hasst die AfD"
Vor der Stadtbibliothek treffen schon vor Veranstaltungsbeginn Büforworter und Gegner der Dragqueen-Lesung aufeinander. Deutlich mehr Publikum mobilisieren konnte die Demo von "München ist bunt". Auch Politiker wie Bürgermeisterin Katrin Habenschaden (Grüne), Christian Vorländer, SPD-Stadtrat, und Kristina Frank, Kommunalreferentin der CSU oder Thomas Lechner von der Linken schlossen sich an. Die Organisatorin der Kundgebung, Micky Wenngatz, spricht von insgesamt 700 Teilnehmern.
Die Demonstrierenden zeigen sich laut, schwenken viele Fahnen und pusten Seifenblasen durch die Gegend. Laute Sprechgesänge verunmöglichen es, dass die AfD-Redner, die zum Protest gegen die Lesung aufgerufen hatten, verstanden werden. Immer wieder schallt es "Haut ab, haut ab"-Rufe und "Ganz München hasst die AfD", berichtet AZ-Reporter Jan Krattiger, der sich vor Ort ein Bild macht.

Die Atmosphäre: Ein wenig gespenstisch ist sie und scheint dem eigentlichen Anlass – einer Lesung für Kinder – kaum angemessen. "Viel Polizei, viel Presse, viel Absperrband", berichtet der AZ-Reporter.
Mütter und Väter wuseln mit kleinen Kindern an der Hand in die Bibliothek. An den übrigen Besuchern der Stadtbibliothek schien die Ankündigung des heutigen Events vorbeigegangen zu sein: Immer wieder kommen Teenagergruppen verwirrt aus der Bibliothek und gehen zu ihren Fahrrädern.

Linke, Grüne, SPD und CSU bei "München ist bunt"-Demo

Die anwesenden Politiker zeigen sich begeistert von der "München ist bunt"-Demo. SPD-Stadträtin Julia Schönfeld-Knor stellt fest: "Man sieht, wie die Stadt zusammensteht. Wir haben keinen Platz für Hetze – nur für Vielfalt." Parteikollege Christian Vorländer stimmt mit ein: "Es ist überwältigend. So viele sind gekommen, um für queere Vielfalt und gegen rechte Hetze und Diskriminierung zu demonstrieren."
Keine Widerworte, auch nicht aus der CSU, deren Stadtrat Hans Theiss den ganzen Aufruhr um die Lesung überhaupt erst gestartet hat. Der war aber offenbar nicht vor Ort am Dienstag. Dafür CSU-Kommunalreferentin Kristina Frank. Sie meint: "Meine Heimatstadt München ist für mich bunt. Das 'C' in meiner Partei steht für christliche Werte, für mich insbesondere Nächstenliebe. Dazu gehört für mich, unterschiedlichste Lebensentwürfe auf ihrem Lebensweg zu unterstützen."
Applaus für die Dragqueens: Lustige Outfits, harmlose Geschichten
Die Lesung beginnt mit einleitenden Worten der Veranstalter: "Falls sie das Gefühl haben, dass ihr Kind wegen den Demonstrationen Unterstützung benötigt, gibt es in einem Nebenraum die Möglichkeit, mit Mitarbeitern des Stadtjugendamts zu sprechen." Danach betreten die lesenden Drag-Perfomer den Raum – unter großem Applaus.
Vicky Voyage betritt ganz in weiß, angelehnt an Prinzessin Elsa, zur Titelmelodie des Disney-Hits "Die Schneekönigin" den Raum. Dahinter tanzt Eric Big Clit in royalem Outfit mit großem Fuchs-Plüschtier-Umhang. Es ist kitschig, es ist lustig, es ist kindgerecht. Die beiden lesen eine erste Geschichte, es geht um Prinzessinnen und Frösche und am Ende küssen sich zwei Mädchen. Alles sehr harmlos. Dann liest Eric die Geschichte vom Jungen, der gerne Röcke trägt. Wer selber Kinder im Kindergartenalter hat, weiß: So außergewöhnlich ist das nicht.
Dragqueens lesen Kinderbücher "Der kleine Prinz" und "Marlon Bundo"
Als drittes lesen sie die Geschichte von "Marlon Bundo", einem Kinderbuch des Britisch-amerikanischen Talkshow-Moderators John Oliver.
Es geht um die Ehe für alle für Kaninchen und eine Stinkwanze, die den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump darstellen soll. Der zweite Teil beginnt mit einer Tanzeinlage von Eric Big Clit. Dann liest er aus seinem, nach eigenen Angaben, Lieblingsbuch "Der kleine Prinz".

Immer mal wieder hört man ein paar kleine, laute Kinderstimmen dazwischenrufen. Auf die Frage, was ihr Lieblingsspielzeug sei, ruft ein Kind laut "Ninjago" (Eltern kennen das). Ein anderes spielt am liebsten mit Zügen oder mit Dinosauriern.
Alles in allem, bei Lichte betrachtet, eine ziemlich konservative Lesung für Kinder in einer Münchner Stadtteilbibliothek. Bis auf die Tatsache vielleicht, dass zwei Drag-Künstler die Bücher vorgelesen haben. Aber selbst das ist eigentlich ja ein alter Hut.
Mitglieder der Identitären Bewegung? Männer versuchen in Stadtbibliothek einzudringen
Nach Angaben des Presseteams der Bibliothek haben sieben junge Männer, alle gleich angezogen in Kluft der Identitären Bewegung, versucht zur Lesung einzudringen und ein Transparent zu entrollen.
Das sei ihnen nicht gelungen, weil zehn bis zwölf Bibliotheksmitarbeiter sie daran gehindert haben. Dann erst kam die Polizei und hat die sieben Männer abgeführt.
Morddrohungen gegen Stadtbibliotheks-Direktor Ackermann
Bei einer Pressekonferenz im Anschluss an die Lesung zogen Arne Ackermann, Direktor der Stadtbibliothek, Vicky Voyage und Eric Big Clit Bilanz. "Wir waren in den letzten Wochen massiven Beschimpfungen und Bedrohungen ausgesetzt, haben hunderte Emails und Telefonate bekommen und es sind auch Menschen vor Ort aufgetaucht." Das ging offenbar bis zu kaum verdeckten Morddrohungen: "Wir wurden auch gefragt, ob die Bibliothek kugelsichere Scheiben hat", so Ackermann.
Vicky Voyage versuchte, den Fokus auf die zu lenken, um die es eigentlich gehen sollte: dieKinder. "Wir haben die Welt ein bisschen besser gemacht." Bei der Lesung habe es ausnahmslos leuchtende Kinderaugen und glückliche Eltern gegeben. "Alle wollten ein Foto mit uns machen", sagt Voyage.
Eric Big Clit, selber ausgebildet in Sozial- und Jugendarbeit, sagt: "Am meisten Arbeit machen immer die Erwachsenen". Es gehe aber um die Kinder. "Die haben im richtigen Kontext das richtige Programm vorgetragen bekommen und haben Spaß gehabt. Darum sollte es gehen."
AfD-Plakate gegen Dragqueen-Lesung: Verbot gefordert
Die Lesung löste im Vorfeld heftige Kontroversen aus. So hatte die AfD plakatiert: "Hände weg von unseren Kindern", ein geschminkter Mann, der sich von hinten in offenbar übergriffiger Absicht einem Kind nähert. Das wiederum hatte Proteste ausgelöst – und Forderungen an das KVR.
Von dort aber hieß es am Montag auf AZ-Anfrage: "Nach sorgfältiger rechtlicher Prüfung kann das KVR keine eindeutige Erfüllung eines Straftatbestandes feststellen. Nur dann aber wäre es dem KVR rechtlich möglich, diese Plakatierung zu untersagen." Nun werden abschließend wohl Gerichte entscheiden, ob der Straftatbestand der Volksverhetzung vorliegt.
Keine rechtliche Handhabe: KVR verbietet AfD-Plakate nach Prüfung nicht
KVR-Chefin Hanna Sammüller-Gradl (Grüne) verteidigte das Vorgehen: "Ich kann nachvollziehen, dass ein solches Plakat als diskriminierend und abstoßend empfunden wird, weswegen wir den Inhalt des genannten AfD-Plakats und mögliche Maßnahmen bereits am vergangenen Freitag umfassend rechtlich geprüft haben. Die geltende Rechtslage ermöglicht uns als Kreisverwaltungsbehörde keine weiteren Schritte."
Sachbeschädigung: Studentengruppe beklebt Stadtteilbibliothek mit Flyern
Getarnt als "Informations-Flyer" hat in der Nacht auf Dienstag offenbar die Gruppe "Studenten stehen auf - München" das Gebiet um die Bogenhausener Stadtteilbibliothek mit Plakaten gegen die Lesung beklebt. Wie aus den sozialen Medien erkennbar ist, hat sich die kleine Münchner Gruppe während der Coronazeit formiert und sich in erster Linie gegen die Impfung positioniert. Sie ist vermehrt auch als Teilnehmerin an den Protestkundgebungen der Coronaleugner-Szene rund um "München steht auf" aufgefallen.
Eine Gruppe "homophober Schwurblerstudentinnen und Studenten" habe die Bibliothek und die Umgebung "mit ihren Hassflyern zugekleistert", schreibt der Stadtteilpolitiker der Grünen Andreas Voßeler auf Instagram. Nach eigenen Angaben haben er und zwei Parteikollegen die Gruppe verfolgt und die Polizei gerufen. Die hat nach Angaben von Voßeler die Gruppe festgesetzt und angezeigt wegen Sachbeschädigung.
Am Dienstagmittag bestätigt die Polizei gegenüber der AZ, dass sie im Bereich Rosenkavalierplatz drei Männer (19, 23 und 26 Jahre alt) festgestellt und ihre Personalien aufgenommen hat. Laut Polizei war einer der Männer Student, einer Azubi und der Dritte wollte keine Angaben zu seiner Person machen. Das Kriminalfachdezernat 4 (Staatsschutzdelikte) der Münchner Polizei ermittelt wegen Sachbeschädigung und politisch motivierter Kriminalität.
Nach Drohungen: Trans-Mädchen Julana fehlt bei der Lesung
Wie am Dienstagmittag außerdem bekannt wurde, wird das 13-jährige Trans-Mädchen Julana nicht wie geplant an der Lesung teilnehmen. Das berichtet das Portal "queer.de".
"Wir werden nicht lesen und ziehen uns aus der Öffentlichkeit zurück aus Angst vor Gewalt", wird Julanas Familie dort zitiert. Sie habe im Nachgang der Berichterstattung der "NZZ" per Telefon Drohungen erhalten.
Draglesung am Dienstag: Kurzfristig doch mit Presse
Ursprünglich hatte die Stadtbibliothek keine Pressevertreter in der Lesung zulassen wollen. Eine Anfrage der AZ, die gerne einen Reporter in die Stadtbibliothek entsandt hätte, wurde abschlägig beschieden. Man lasse grundsätzlich keine Presse zu, um den Familien und Kindern einen geschützten Raum zu bieten, verteidigte die Stadtbibliothek das sehr unübliche Vorgehen, Presse bei einer umstrittenen öffentlichen Veranstaltung auszuschließen.
Nach Protesten: Stadtbibliothek lässt Pressevertreter bei Dragqueen-Lesung zu
Nach Protesten machte die Stadtbibliothek am Montagabend eine Kehrtwende. Sie teilte mit: "Der Zugang zum eigentlichen Veranstaltungsraum ist nach wie vor Eltern und Kindern vorbehalten. Aber wir übertragen die Lesung in einen weiteren Raum in der Bibliothek."
Draußen wollen nicht nur Gegner, sondern auch Befürworter der Veranstaltung demonstrieren. So veranstaltet der Verein "München ist bunt" ab 15.30 Uhr eine Kundgebung vor der Stadtbibliothek. "Wir fordern ein Ende der Hetzkampagne gegen die geplante Drag-Lesung in München", teilten die Organisatoren auf Instagram mit.
Die Vereinsvorsitzende von "München ist bunt", Micky Wenngatz, ergänzt: "Es geht bei dieser Lesung ganz klar darum, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass queere Menschen völlig selbstverständlich Teil unserer Gesellschaft sind. Die mit Sexualisierungen und queerfeindlichen Aussagen befeuerte Hetzkampagne Rechter ist unsäglich." Er dankte der Stadtbibliothek, die angesichts der öffentlichen Debatten Haltung zeige.