Ausgebremst: So erging es Münchens Wirten im (ersten) Lockdown
München - Als am 21. März die große Stille über München kommt, ändert sich für rund 5.200 Münchner Wirtshaus-, Restaurant- und Cafébetreiber alles. Sie schließen die Türen ab, stellen die Stühle hoch, räumen die Tresen auf. Lauschen in die Leere. Und was jetzt?
Zwei Münchnerinnen, der Fotografin Helena Heilig und der Autorin und Filmemacherin Susanne Fiedler, hat diese Frage keine Ruhe gelassen. Im April, mitten im damaligen Lockdown, besuchten sie 26 Wirtinnen und Wirte in ihren Lokalen. Sie sprachen mit Wiesnwirten und Barbetreibern, Restaurantköchen und Café-Chefs. Sie führten sehr persönliche Interviews und fotografierten in den menschenleeren Gaststuben. Vom prominenten Münchner Hofbräuhaus in der Altstadt über Kneipen wie die Burg Pappenheim am Gärtnerplatz bis zur Bar Sehnsucht in der Maxvorstadt.

"Wir hatten zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung, wann und wie wir dieses Projekt einmal ausstellen würden", sagt Susanne Fiedler. "Uns war nur klar, dass diese Geschichten genau in dem Moment festgehalten werden müssen." "Die Leute waren empfänglich, weil sie plötzlich sehr viel Zeit hatten", erzählt Helena Heilig. Und Susanne Fiedler staunte, wie emotional gestandene Wirte über den Schock der plötzlichen Vollbremsung in ihrem Leben sprachen.
So sind Helena Heiligs Schwarz-Weiß-Fotos intime Blicke in die gastronomischen Herzkammern Münchens geworden, bereichert mit Susanne Fiedlers Protokollen. Wie schnell ihre Bilder und Geschichten neue Aktualität erlangen, weil nun der nächste Lockdown bevorsteht, das war für die beiden Frauen freilich damals nicht absehbar.

(Anmerkung der Redaktion: Alle folgenden Texte stammen von Susanne Fiedler)
Hofbräuhaus – Die Sperger-Brüder: "Wir fühlen uns völlig überrollt"

Lieder besingen es, Touristen möchten einmal hier ein Bier getrunken haben, und viele Münchner sitzen an den über 125 Stammtischen. Kaum ein Gasthaus wirkt verwaister ohne Gäste als das "Hofbräuhaus" am Platzl, im Herzen Münchens.
In der historischen Schwemme, wo früher das Bier gebraut wurde, treffen wir am 24. April die Brüder Michael und Wolfgang Sperger, die 2004 vom Vater das über 100 Jahre alte Wirtshaus übernommen haben. Es ist taghell – und leer. Ein Anblick, den es sonst nur ganz spät in der Nacht gibt.
"Wir sind hier groß geworden", sagt Michael Sperger, "noch nie war das Hofbräuhaus zu. Die Dimension können wir kaum fassen." Beide führen Krisengespräche mit Lieferanten und Brauereien. Über 250 Mitarbeiter sind in Kurzarbeit. "Bei uns wird so viel selbstgemacht", sagt Wolfgang Sperger, "wir haben ja eine hauseigene Metzgerei, eine Bäckerei, eine große Küche, das alles zu stoppen, ist ein riesiges Unterfangen. Wir fühlen uns völlig überrollt."
Was kommt also jetzt? Die Menschen, sagen sie, wollen an einem großen Tisch zusammensitzen und feiern. Vorbei, vorerst. Das Hofbräuhaus müsse sich neu erfinden. Aber eines dürfe auf keinen Fall verloren gehen, auch nach Corona nicht: die bayerische Gemütlichkeit.
Champor - Kiren Alt: "Ich sehe einen Silberstreifen"

Eine kleine und farbenfrohe Oase in den Zweckbauten im Münchner Osten in der Warthestraße/Ecke Denninger Straße – das ist das Restaurant "Champor". Es ist so ziemlich die einzige Adresse für Essen aus Malaysia in München.
Die Gastgeberin Kiren sitzt an einem ihrer Holztische. Das "Champor" ist für sie ihre zweite Heimat, ihr Zuhause. Der Lockdown haut sie nicht um. "Ich habe in meinem Leben schwere Krisen durchlebt. Natürlich ist diese Situation etwas völlig Neues, aber ich bleibe positiv und ruhig." Doch Kiren hat auch ganz persönliche Gründe, weshalb sie gerade nicht aus der Fassung gerät. Sie hat vor kurzem ihren Vater verloren. Nun sieht sie im Lockdown die Chance, die große Trauer etwas zu verarbeiten. "Jemand hat auf Pause gedrückt. Nun sitzen wir alle im selben Boot."
Kiren hofft auch, dass der Lockdown etwas verändert im Bewusstsein der Gäste, dass die Arbeit des Kochs wieder mehr geschätzt wird. "Es geht nicht nur um schnell und billig. Gerade das asiatische Essen wird oft unterschätzt." Kiren bleibt positiv. "Ich sehe immer einen Silberstreifen am Horizont."
Burg Pappenheim - Romeo Erik Kertalla: "Wie leichtes Fieber"

Die "Burg Pappenheim" ist in München eine Institution. So, als sei sie einfach schon immer dagewesen – gleich um die Ecke vom Gärtnerplatztheater in einem über 100 Jahre alten Gebäude. Viele Stammgäste hat die gemütliche Kneipe mit traditioneller bayerischer Küche.
Romeo Erik Kertalla erlebt den Anfang des Lockdowns so, als hätte er leichtes Fieber. "Wie lang soll das jetzt gehen?" Plötzlich hat er Zwangsurlaub, die fünf festangestellten Mitarbeiter werden in Kurzarbeit geschickt. Zwei Wochen steckt er ganz gut weg, dann wird er immer nervöser. "Wie soll ich das beschreiben, plötzlich wurde mir bewusst, dass das Leben begrenzt ist", sagt er, und er möchte jetzt jeden Tag bewusster gestalten.
Zu Hause ist Ausnahmezustand. Zwei Kinder haben er und seine Frau, die als Dozentin an der Uni arbeitet. Auch sie ist zuhause, das Homeschooling übernehmen jetzt beide. "Das muss man auch erst einmal meistern." Die Soforthilfe beantragt der 41-Jährige gleich und dankbar ist er der Brauerei, die anfangs die Miete erlässt und hilft, Kosten zu reduzieren. "Doch wir wissen nicht, wie lange wir das schaffen, die Kosten laufen ja dennoch weiter."
Der Spaten Sepp - Josef Sperl: "Fast dankbar für eine Zwangspause"

Einst war das Dreimühlenviertel Arbeitergegend. Inzwischen gilt es als hip. Mittendrin liegt das Wirtshaus "Spaten Sepp", das Jungwirt Josef Sperl, genannt Sepp, erst seit Anfang des Jahres führt. Der gelernte Koch und Hotelbetriebswirt begeistert sich für junge Blasmusik, Tracht und Tradition und ist stark geprägt durch seine Kindheit auf dem Land.
Er will Menschen aller Altersgruppen ins Wirtshaus holen. Die ersten Wochen laufen gut, doch dann wird Sepp vom Lockdown ausgebremst. "Wir waren noch erschöpft von der Eröffnungszeit, so war ich fast dankbar für eine Zwangspause." Josef Sperl ist niemand, der schnell in Panik gerät. Zehn Mitarbeiter werden in Kurzarbeit geschickt. Der junge Wirt bleibt ruhig.
Als Kind war er auch viel mit seinen Großeltern zusammen – und kennt deren Geschichten. "Bei ihnen war es doch richtig hart damals, sich etwas aufzubauen." Die letzten Jahrzehnte seien dagegen Luxus gewesen. "Ich bin froh, dass ich nicht in Aleppo lebe." Sepp bemerkt mit Freude, dass die Gesellschaft die Gastronomie jetzt wieder mehr schätzt, dass er bestärkt wird, durchzuhalten.
Xaver's - Die Geschwister Portenlänger: "Können wir überleben?"

Ihr ganzes Leben haben sie in der Gastronomie verbracht: Theresa, Xaver und Jakob. Ihrem Vater Ulli Portenlänger gehört der Alte Wirt in Grünwald. Das Xaver's im Gärtnerplatzviertel haben sie erst vor zwei Jahren aufgemacht, mit bayerischer gehobener Küche.
"Wir sind geschockt, sprachlos", sagt Theresa. Die 40 Mitarbeiter haben sie sofort in Kurzarbeit geschickt. Sie sorgen sich darum, wie die in München bei den hohen Mieten über die Runden kommen können. Alle Drei haben Existenzängste: "Können wir so einen Lockdown überhaupt überleben? Wir verstehen uns als Wirtshaus für die Nachbarschaft und pflegen ein persönliches Verhältnis zu den Gästen."
Alle Drei sind sehr dankbar, dass die Brauerei ihnen für eineinhalb Monate die Pacht erlässt. Sie geben zu, dass ihnen die freie Zeit auch guttut und dass sie fast schon vergessen hatten, wie es sich anfühlt, etwas nur für sich machen zu können. Und alle haben sich fest vorgenommen, mehr an ihre Freizeit zu denken. Dann fällt es noch leichter, sich auf eines von ganzem Herzen zu Freude: für ihre Gäste da zu sein.
Tambosi - Die Crocamos und Martin Gösslbauer: "Plötzlich fremd, unerfahren"

Pino, Martin und Ugo sitzen ganz alleine hinten im "Tambosi", ihrem leeren Lokal am Odeonsplatz, gegenüber der Theatinerkirche. Für gewöhnlich gibt es hier tagsüber nicht einen freien Stuhl. Eine nie dagewesene Situation.
Die Stimmung ist am Nullpunkt. "Wir fühlen uns plötzlich fremd, unerfahren. Wir vermissen so sehr, für was wir stehen", sagt der italienische Wirt Ugo Crocamo, und meint damit ein gefülltes Lokal, Leben, Lachen, Enge, Betriebsamkeit. Alles, was italienische Lebensart ausmacht, ist plötzlich verpönt. Umarmungen, Küsse, nah beieinander sein. "Plötzlich gehen die Leute auf die Seite. Schrecklich."
Crocamo hat Höhen und Tiefen in der Gastronomie erlebt. Aber sowas? "Wir können nicht mehr planen, erstmals haben wir Existenzängste." Über 100 Mitarbeiter sind in Kurzarbeit, "wir verstehen uns ja als eine Familie". Im Lockdown renovieren die Drei, planen ein Konzept für die Terrasse, denken daran, Eis zu verkaufen. "Aber das ist alles Beschäftigungstherapie", sagt Crocamo. "Wir sind Stress-Junkies, wir merken jetzt, wie sehr wir unsere Arbeit lieben."

Das Ausstellungsprojekt "Wirte im Lockdown" von Helena Heilig und Susanne Fiedler ist voraussichtlich vom 3. bis 20. Dezember 2020 im ehemaligen Wirtshaus "Hofer" zu sehen (Burgstraße 5, nahe Marienplatz). Terminänderungen und Tickets unter: www.wirte-im-lockdown.de