Der große Drang nach Freiheit
Die einzigen Menschen, die mich interessieren, sind die Verrückten, die verrückt leben, verrückt reden und alles auf einmal wollen, die nie gähnen oder Phrasen dreschen, sondern wie römische Lichter die ganze Nacht brennen, brennen, brennen."
Diesen subversiven Satz sagt der Beatnik-Autor Jack Kerouac in der Ära des Kalten Krieges. Zu der Zeit riskieren in den USA linke Künstler, von Senator McCarthy und seinem antikommunistischen Ausschuss ins Gefängnis gesteckt zu werden. Es sind die 1950er Jahre, und die Rassentrennung ist immer noch allgegenwärtig.
Die Fifties stehen aber auch für die Kultur des Aufbegehrens. Der Drang nach Freiheit und die Rebellion gegen die bürgerliche Moral bringen revolutionäre Schriften wie Kerouacs "On The Road" hervor - und sorgen gleichzeitig für den Urknall einer neuen musikalischen Bewegung, den Rock'n'Roll. Eine explosive Mischung aus Blues, Swing, Country und Erotik.
Zwei junge Musiker, die Musikgeschichte schreiben werden
Als der schwarze US-Sänger Jackie Brenston (21) und der schwarze Pianist Ike Turner (19) am 5. März 1951 die Memphis Recording Service und späteren Sun Studios des weißen Produzenten Sam Phillips (28) betreten, ahnen sie nicht, dass sie Musikgeschichte schreiben werden.
Der elektrisierende, urwüchsige Zwölf-Takt-Blues "Rocket 88" aus ihrer Feder hat bereits alles, was den Musikstil Rock'n'Roll einmal auszeichnen soll: ein sexuell suggestiver Text, eine raue, wilde Spielweise. So prickelnd hat bis dahin noch keine schwarze Musik geklungen. Die lauten, übersteuerten und verzerrten E-Gitarrenklänge gehen auf den defekten Röhrenverstärker Willie Kizarts (19) zurück.
Ausgehend von dieser Transistorverzerrung soll später eine eigene, von Weißen dominierte Musikrichtung entstehen, die mal Garage Rock, mal Psychedelic Rock genannt wird. "Satisfaction", der größte Hit der Rolling Stones, ist das bekannteste Beispiel für den sogenannten Fuzz-Effekt.
Er wird auch extensiv von Jimi Hendrix angewendet. 1956 kopiert Little Richard zudem Ike Turners prägnantes Piano-Intro für seinen Hit "Good Golly, Miss Molly".
Durch "Rocket 88" landen Alkohol und Sex in der Popularmusik
Am 9. Juni 1951 erobert "Rocket 88" die R & B-Records-Charts. Doch auf der Hit-Single mit der Nr. 1458 verschweigt das in Chicago sitzende Label Chess Records die Mitwirkung von Bandleader Ike Turner und dessen Rhythm Kings. Auf dem Cover werden stattdessen der Sänger und Saxofonist Jackie Brenston und die Gruppe "Delta Cats" genannt. Das und der große Erfolg des Titels bei einer weißen Hörerschaft führten zu einem Zerwürfnis der beteiligten Musiker.
Turner, der eigentliche Komponist, soll an der Platte nur 40 Dollar verdient haben. Sie führt nicht weniger als die Themen Autos, Sex und Alkohol in die Popularmusik ein. Insbesondere der Cadillac soll schon bald eine immense Bedeutung für die US-amerikanische Jugendkultur bekommen. Aber erst 1991 würdigt die Rock'n' Roll Hall Of Fame "Rocket 88" als ersten wahren Rock'n'Roll-Song in der Musikgeschichte.
"Ein weißer Junge, der wie ein schwarzer Sänger klingt, ist wie eine Goldmine", stellte Ike Turner rückblickend desillusioniert fest. "Sie haben diesen Sound Rock'n'Roll genannt und nicht etwa R & B, was zutreffender wäre, weil sie Elvis Presley und Jerry Lee Lewis hatten."
Das erste Rock'n'Roll-Konzert überhaupt ist der Moondog Coronation Ball am 21. März 1952. Es wird von dem DJ Alan Freed und dem lokalen Veranstalter Lew Platt in der Cleveland Arena organisiert. Dabei treten Paul Williams and his Hucklebuckers, Tiny Grimes and the Rocking Highlanders, The Dominoes, Varetta Dillard und Danny Cobb hauptsächlich vor Teenagern in Ekstase auf.
Die örtliche Polizei ist die ganze Zeit in Sorge, dass ein Aufstand ausbrechen könnte. Ausgerechnet ein leicht übergewichtiger fünffacher Familienvater aus Michigan ist der erste Weiße, der diesen vulgären, rebellischen und lärmenden Musikstil im Mainstream definiert. Sein Name: Bill Haley. Äußerlich ist er alles andere als Elternschreck, Jugendidol oder Krawallmacher.
Tatsächlich ist er aber der erste, der schweren Blues-Themen die Stromlinienförmigkeit der Countrymusik verpasst.
Die Ära der Rockmusik beginnt über Nacht
Das gemeinsam mit seiner Band, den Comets, eingespielte "Rock Around The Clock" ist das erste Rockalbum, das in die US-Charts gelangt. Dort klettert es im Frühjahr 1956 bis auf Platz zwölf. Die gleichnamige Single erschien bereits im Mai 1954 und ist die erste Rock'n'Roll-Nummer an der Spitze der Billboard-Pop-Charts. Im Zuge seines massiven Erfolgs wird Bill Haley von den Medien als "Vater des Rock'n'Roll" tituliert.
Die Ära der Rockmusik beginnt über Nacht und attackiert die Dominanz von Jazz- und Pop-Croonern wie Frank Sinatra oder Bing Crosby.
Zum größten Star dieser neuen Bewegung wird allerdings ein 19-jähriger Lkw-Fahrer aus Tupelo/Mississippi: Elvis Presley. Im Frühjahr 1954 macht er in Memphis/Tennessee die Bekanntschaft des bereits erwähnten Sam Phillips. Der Besitzer des winzigen Sun Records Studios an der Union Avenue ist auf der Suche nach einem weißen Countrysänger, der über eine Rhythm'n'Blues-Stimme verfügt.
Im Sommer 1954 kommt Presley in den Sun Studios erstmals mit dem Gitarristen Scotty Moore (22) und dem Bassisten Bill Black (18) zusammen. Sam Phillips ist von den sentimentalen Liedern des Sängers zuerst wenig beeindruckt.
Als Elvis in einer Pause am Mikrofon herumalbert und spontan die Blues-Nummer "That's All Right" intoniert, steigen Black und Moore nacheinander in die Session mit ein. In dem Moment entdeckt Phillips in Elvis' Stimme das gewisse Etwas: eine geheimnisvolle erotische Anziehungskraft.
Sam Phillips hat ein untrügliches Gespür dafür, wann ein Künstler seine beste Vorstellung gibt. Ihm kommt es vor allem aufs Gefühl und nicht auf die technische Perfektion an, und so sucht er stets nach der perfekten unperfekten Aufnahme. Phillips ist ein Innovator, indem er beim Abmischen Elvis' Stimme zurücknimmt zugunsten der Instrumente, was damals absolut unüblich ist.
Zudem verwendet er bei den Aufnahmen einen Echo-Effekt, indem er das Tonband durch einen zweiten Recorder laufenlässt. 1956 wechselt Elvis Presley schließlich vom regionalen Sun- zum nationalen RCA-Label. Seinen neuen Produzenten gelingt es jedoch nicht, den charakteristischen Sun-Records-Sound zu imitieren.
Seine Debütsingle beim neuen Label ist "Heartbreak Hotel". Sie entwickelt sich mit zwei Millionen verkauften Exemplaren zum größten Hit 1956. Der Rolling Stone wählt sie in seiner Liste der 500 besten Singles aller Zeiten auf Platz 45. Am 23. März 1956 erscheint das Album "Elvis Presley". Für sein LP-Debüt greift der inzwischen 21 Jahre alte Sänger auf Rock'n'Roll- und Rockabilly-Songs aus der Sun-Zeit und neuere Titel zurück. Für RCA wird es der erste Millionenseller in seiner Geschichte.
Noch im selben Jahr tut er sich mit Johnny Cash (24), Carl Perkins (22) und Jerry Lee Lewis (21) zum Million Dollar Quartet zusammen. Die spontane Session gilt als Schlüsselmoment in der Geschichte des Rock'n'Roll.
Seither ist der Sänger Elvis Presley unzählige Male kopiert worden. Chuck Berry hat das nicht nötig. Umgekehrt reichte der Platz auf dieser Seite nicht, um alle Coverversionen des Elvis Aaron Presley von Chuck Berry aufzuzählen.
Chuck Berry will nicht der "schwarze Elvis" sein
Seine erste Plattenaufnahme macht der Gitarrist und Sänger Berry mit 18 Jahren im Spätsommer 1954 in den Premiere Studios im schwarzen Elendsviertel von St. Louis/Missouri. Die Songs werden noch unter seinem bürgerlichen Namen Charles Berry veröffentlicht.
Chuck Berry hat keine Lust, zum "schwarzen Elvis" gestylt zu werden
Im April 1956 nimmt er als Chuck Berry "Roll Over Beethoven" auf. Die Single verkauft sich millionenfach und hält später als einer von 50 historisch bedeutsamen Titeln Einzug in die Forschungsbibliothek des US-Kongresses.
Berrys Manager will ihn zum schwarzen Elvis aufbauen, aber der Musiker macht lieber sein eigenes Ding. Mit harten, ungeschliffenen Gitarrensongs wie "Rock'n'Roll Music", "Johnny B. Goode" oder "Sweet Little Sixteen" vollzieht er den nahtlosen Übergang vom Rhythm & Blues zum furiosen, provozierenden Rock'n'Roll.
Doch im rassistischen Amerika der 1950er Jahre ist ein eigenwilliger schwarzer Jugendheld wie Chuck Berry nicht gefragt. Seine Songs werden gerade wegen ihrer unverwechselbaren Gitarrenriffs später zwar von den Beatles und Rolling Stones aufgenommen, aber er selbst wird immer wieder von windigen Managern betrogen.
Das macht ihn mit der Zeit zu einem übellaunigen, misstrauischen Zeitgenossen. Nichtsdestotrotz gilt der 2017 verstorbene Musiker heute als der wahre Gott des Rock'n'Roll.
Ein rebellischer und kantiger Geist
Einer der wenigen schwarzen Sänger, die in der ersten Liga des Rock'n'Roll mitspielen dürfen, ist Little Richard (23). 1955 bricht er wie ein Tornado über den Rock'n'Roll herein.
Der Sänger und Pianist aus Georgia ist anders als seine musikalischen Zeitgenossen, steht offen zu seiner Homosexualität und tritt ungemein exzentrisch auf. Ob mit ondulierter Tolle, grellem Make-up oder glamourösem Spiegelscherbenanzug - als besessener Zeremonienmeister macht Little Richard von Anfang an eine gute Figur (und David Bowie sah sich selbst in dessen Nachfolge): Ein rebellischer und kantiger Geist, dessen selbstzerstörerische Konzerte Orgien gleichen.
Innerhalb von zwei Jahren bringt Little Richard sagenhafte 30 Millionen Platten an den Mann. Genauso plötzlich wie sein Auftauchen ist sein Abgang von der Rock'n'Roll-Bühne: Ende 1957 beschließt er nach Beobachtung eines Feuerballs am Himmel, mit dem "bösen Rock'n'Roll" radikal zu brechen. Stattdessen dient er als Prediger und Bibelverkäufer dem Christentum - bis zu seinem Comeback Anfang der 1960er. Er stirbt 2019 im Alter von 87 Jahren.
Rock'n'Roll-Pioniere wie Plattenfirmengründer Art Rupe (103), Sänger Jerry Lee Lewis (85) oder Gitarrist James Burton (81), der mit seinem "Hot-Tele-Sound" die Musik Elvis Presleys und Ricky Nelsons prägte, sind mittlerweile deutlich ruhiger. Aber sicher ist: Ohne sie gäbe es heute keine Rockmusik.
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