Daniil Trifonov: "Wenn ich Bach spiele, nehme ich die Zeit nicht wahr"
Auf seinem neuen Doppelalbum "Bach - The Art of Life" verbindet der Pianist Daniil Trifonov Erhabenheit, Schwere und tänzerische Leichtigkeit. Er spielt "Kunst der Fuge", die Violin-Chaconne in einer Bearbeitung von Johannes Brahms und Werken von vier Söhnen Bachs.
AZ: Mr. Trifonov, für Max Reger war Bach der Beginn und das Ende der Musik. Welche Bedeutung hat Bach für Sie?
DANIIL TRIFONOV: Bach ist unausweichlich für jeden Musiker. Ich habe mich in der Vergangenheit immer wieder mit Bach auseinandergesetzt und es geliebt, für das Album nun zu seiner Musik zurückzukehren.
Die "Kunst der Fuge" ist ein hoch komplexes Meisterwerk. Warum verbinden Sie auf Ihrer neuen Doppel-CD dieses Stück mit Bachs "Chaconne" mit deutlich weltlicheren Werken der Bach-Söhne. Wie kam es zu dieser Kombination?
Als ich begonnen habe, die "Kunst der Fuge" zu studieren, fand ich es erst einmal sehr spannend, die fast mathematischen Proportionen dieses Werks zu durchdringen. Aber da sind auch so viele vokale Elemente in den Fugen und da ist so viel Wärme, Menschlichkeit und Emotion - dadurch habe ich begonnen, über Bach nicht nur als Komponisten, sondern als Mensch intensiv nachzudenken.
Trifonov: "Die Chaconne zeigt Bach in seinem größten Schmerz"
Wie haben Sie den Menschen Bach ergründet?
Ich habe nach Hinweisen in seinen Werken und denen seiner Kinder gesucht. Schließlich ist Bachs Musik ausgesprochen kommunikativ und menschlich. Bei der "Chaconne" gibt es ja die Hypothese, dass Bach dieses Stück nach dem Tod seiner ersten Frau geschrieben hat. Für mich ist das sehr glaubhaft und ist die "Chaconne" das wohl tragischste, emotionalste Stück, das Bach je geschrieben hat - es zeigt Bach in größtem Schmerz. Und auch in der "Kunst der Fuge" finden sich beinahe autobiografische Momente. Immerhin hat Bach hier seinen eigenen Namen eingebaut.
Kann man von der Musik auf den Menschen schließen?
Das hängt davon ab. Wenn man etwa die Musik von Strawinsky hört, weiß man gar nicht, welche Art von Person er war - er versteckt sich selbst komplett hinter seiner Musik wie hinter einer Maske. Bei Bach hingegen gibt es eine derart starke Betonung der inneren und spirituellen Welt, dass es schwer ist, sich Bach getrennt von seiner Musik vorzustellen. Leider gibt es nicht viele Informationen, die aus seiner Zeit überliefert worden sind. Was wir aber haben, ist die Musik seiner Söhne und das Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach.
Trifonov: "Bachs Musik funktioniert gut auf anderen Instrumenten"
Welcher Vater war Bach für seine Kinder?
Ich kann darüber nur spekulieren. Aber immerhin haben vier seiner Söhne wunderbare Musik geschrieben und ich glaube nicht, dass eine derartige Generation von Kindern hätte entstehen können in einer toxischen Umgebung.
Es gibt unzählige renommierte Bach-Einspielungen. Wie haben Sie sich auf Ihre "Kunst der Fuge" vorbereitet?
Ich habe mir natürlich viel angehört. Was ich besonders mag, ist, dass Bachs Musik so gut auf anderen Instrumenten funktioniert. Unter anderem existiert eine Transkription des letzten Kontrapunkts der "Kunst der Fuge" von Carl Philipp Emanuel Bach für vierstimmigen Chor, zudem gibt es zum Beispiel Einspielungen der Fugen durch die Amsterdam Bach Soloists nur mit Streichern oder nur mit Bläsern. Das hat mich sehr inspiriert.
"Wenn ich Bach spiele, befinde ich mich in einem Zustand purer Konzentration"
Wie spiegelt sich das in Ihrem eigenen Spiel wider?
Das Klavier ist ein sehr flexibles Instrument und man kann damit gut imitieren, zum Beispiel die leiseren vokalen Passagen, die auf dem Klavier klingen können wie gesungen, oder der kraftvolle Bass, der wie eine Orgel tönen kann. Als Interpret muss man diese Vielfalt an Charakteren und Stimmungen mit dem Anschlag herausarbeiten, sonst ist es für den Hörer schwer, über eine lange Zeit in der immer gleichen Tonart mit demselben Thema konzentriert zu bleiben.
Wie fühlt es sich an, wenn Sie Bach spielen?
Wenn ich Bach spiele, befinde ich mich in einem Zustand purer Konzentration. Gerade die Aufführung der "Kunst der Fuge" ist mit nichts anderem vergleichbar, derart komplex ist diese Musik. Das ist vor allem mental ausgesprochen fordernd. Ich weiß noch, wie ich in den USA einmal an einem Tag drei Englisch-Prüfungen hintereinander belegen musste. Das war extrem taff und am Ende des Tages lief mein Gehirn wie auf einer anderen Frequenz. Bei den Bach-Fugen fühlt sich das manchmal ähnlich an.
Trifonov: "Je stärker die Gravitation der Musik, desto stärker sind wir magnetisiert von ihr"
Mit Bachs Musik geht eine besondere Magie einher. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Ich habe bei Bach ein interessantes Phänomen beobachtet - das reicht bis in die Physik hinein. Wenn ich Bach spiele, nehme ich das Verstreichen der Zeit nicht mehr wahr. Normalerweise übe ich am Stück nicht länger als drei Stunden, danach brauche ich eine Pause. Bei Bach bin ich in der Lage, jeden Tag acht Stunden zu üben und es fühlt sich überhaupt nicht nach viel Zeit an.
Woran könnte das liegen?
Ich kann nur mutmaßen, aber Zeit ist ja definitiv relativ und es gibt da einen bestimmten Magnetismus. Je stärker die Gravitation eines Sterns, desto stärker bindet er Licht und Zeit. Vielleicht gilt das auch für die Musik: je stärker die Gravitation der Musik, desto stärker sind wir magnetisiert von ihr und desto stärker sind wir in der Musik und die Zeit um uns herum vergeht, ohne dass wir es wahrnehmen.
Ihr neues Album heißt "Kunst des Lebens" und geht damit weit über die "Kunst der Fuge" hinaus. Was steckt hinter diesem Titel?
Es geht auf dem Album neben der "Kunst der Fuge" nicht nur um das Leben von Bach und seinen Kindern, sondern letztlich um das Wunder des Lebens selbst. Diese unglaubliche Tatsache, dass es überhaupt Leben gibt im Universum, das sich dann fortentwickelt. In gewisser Weise spiegelt sich das auch in der Musik: Ein Thema wird geboren und dann entstehen daraus so viele verschiedene Dinge. Das ist eine Form der Evolution.
Daniil Trifonov: "Bach: The Art of Life" (2 CDs, Deutsche Grammophon)
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