Merkels Musikauswahl zum Zapfenstreich: Du hast den Subtext vergessen
Vor ein paar Tagen lobte Franz Welser-Möst in der "Frankfurter Allgemeinen" die Klassik-Kompetenz der scheidenden Kanzlerin, für die Musik so etwas wie den "Notausgang aus dem Alltag" darstelle. Der gegen Ende ins Schwärmerische übergehende Artikel gipfelte in dem vollmundigen Ausruf "Den Künsten geht eine Schutzherrin verloren".
Freiberufliche Musiker, die von der Merkel-Vertrauten und Kulturstaatsministerin Monika Grütters in der Pandemie auf Hartz IV verwiesen wurden, werden in diesen Jubelchor womöglich nicht mit voller Lautstärke einstimmen. Und nun kommt die zweite kalte Dusche: Für die traditionelle Serenade innerhalb des Großen Zapfenstreichs darf sich der oder die Geehrte die Musik selbst aussuchen. Und da hat sich die traditionelle Bayreuth-Besucherin keineswegs für "Wotans Abschied" von Richard Wagner entschieden, sondern für das Knef-Lied "Für mich soll's rote Rosen regnen", "Großer Gott wir loben Dich" und den DDR-Schlager "Du hast den Farbfilm vergessen".
Was hat sich Angela Merkel bei der Auswahl gedacht?
Zwei der drei Lieder sind völlig unschuldig. Das Knef-Lied ist mit den Sätzen "Mir sollten sämtliche Wunder begegnen, die Welt sollte sich umgestalten" ein wenig resignativ: Das passt gut zur nüchternen Nachdenklichkeit der Kanzlerin. "Großer Gott wir loben dich" ist zwar ursprünglich ein katholisches Lied. Es steht aber im Evangelischen Gesangbuch und wird auch von Protestanten gerne gesungen. Es lässt sich als ökumenische und im weiteren Sinn auch gesamtdeutsche Antwort auf den erzpreußischen Choral "Ich bete an die Macht der Liebe" verstehen, der zum Zeremoniell des Zapfenstreichs gehört.
Was hat sich Angela Merkel aber bei "Du hast den Farbfilm vergessen" gedacht? Die damals 19-jährige Nina Hagen sang dieses Lied 1974 mit der Gruppe Automobil. Es war ihr größter Hit in der DDR. Vordergründig handelt dieser flotte Schlager von einem Ferienaufenthalt auf Hiddensee. Eine junge Frau ist wütend auf ihren Partner Micha, der mangels Farbfilm nur in Schwarz-Weiß fotografieren kann.
"Du hast den Farbfilm vergessen" - ein Lied mit doppeltem Boden
Allerdings hat dieses Lied von Michael Heubach (Musik) und Kurt Demmler (Text) einen doppelten Boden, auf den der Journalist Friedrich Küppersbusch am Montag in seiner wöchentlichen Interview-Kolumne in der "taz" hinwies: Er hoffe darauf, so Küppersbusch, irgendwer möge Merkel vor der Zeremonie am Donnerstag noch behutsam erklären, dass das Lied von einer Vergewaltigung erzähle.
In der langen Fassung mit sechs Strophen wird das noch deutlicher. Letztendlich ist auch die übliche Kurzfassung von "Du hast den Farbfilm vergessen" unmissverständlich. Im Sanddorngebüsch auf Hiddensee ereignete sich nach FKK und dem Baden im Bikini etwas sehr Schmerzhaftes, das unausgesprochen bleibt. Aber das Leid des Mädchens war so groß, dass sogar die Kaninchen aus dem Bau blickten.

Alles spricht dafür, dass es sich um eine Vergewaltigung handelte. Und so liest nicht nur Küppersbusch diesen Schlager, auch im Internet ist diese Deutung nebst Analysen gut vertreten, die die Kritik an der sozialistischen Mangelwirtschaft hervorheben.
Der Subtext ist ein offenes Geheimnis
Hinzu kommt, dass der Textdichter Kurt Demmler der Sohn eines Gynäkologen war und vor seiner erfolgreichen Karriere als Schlagertexter selbst als Arzt praktizierte. 1976 protestierte er gegen die Ausbürgerung von Wolf Biermann, wofür er vom SED-Regime mit einem zweijährigen Aufführungsverbot bestraft wurde. Später hatte er Ärger wegen eines Schlagers über die Luftverschmutzung in der DDR.
In der Nachwendezeit konnte Demmler nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen. 2002 wurde der Textdichter von "Du hast den Farbfilm vergessen" zum ersten Mal wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt, während eines zweiten Prozesses beging er 2009 in der Haft Suizid.
Nina Hagens Schlager mag DDR-Nostalgie auslösen. Sein Subtext ist, wie ein kurzer Blick ins Internet beweist, ein offenes Geheimnis. Was nur will uns die scheidende Kanzlerin damit sagen?
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