Kultur-Highlights 2020: Die AZ-Sterne des Jahres
München - Natürlich haben wir uns Gedanken gemacht: Sollen wir 2020 überhaupt Kultursterne vergeben, wo doch das Kulturleben fast vollständig lahmgelegt war und die meisten Projekte nicht realisiert werden konnten? Aber dann sind uns immer mehr Künstlerinnen, Künstler und Ereignisse eingefallen, die trotz - oder auch gerade wegen Corona - bemerkenswert waren und auf jeden Fall unsere Wertschätzung verdient haben.
Das Virus hat die Künstler schmerzhaft von ihrem Publikum getrennt. Alles deutet darauf hin, dass dieser Zustand auch im neuen Jahr noch eine Weile so so bleiben wird. Wir spenden Applaus für herausragende Ideen und große Kunst, die genussvoll das alles beherrschende Thema zumindest kurzzeitig vergessen ließen.
Filmdrama: Burhan Qurbanis Version von "Berlin Alexanderplatz"

Wer die legendäre 14-teilige TV-Serienverfilmung von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" angesehen hat, merkt, wie Rainer Werner Fassbinder das TV-Format ausreizte und sprengte. Noch einmal 40 Jahre später hat jetzt Regisseur Burhan Qurbani den Roman in eine neue, dreistündige Kinoversion gebannt und wiederum die klassischen Erzählmuster des Kinos aufgebrochen.
Sein Franz Biberkopf, der gut sein will, aber den die Umstände zeitweise moralisch ruinieren, ist im Hier und Jetzt ein angespülter Flüchtling, der sich illegal in Berlin durchschlagen muss - gespielt von Welket Bungué aus Guinea-Bissau. Man gerät in einen Filmrausch aus Farben und Tönen, Poesie und Metaphern, einer packenden Lebens- und Liebesgeschichte. Der Film wirft so viele moralische Fragen auf, dass einem der eigene Moralkodex dabei um die Ohren fliegt. Am Ende ist man nachdenklich beglückt und kunstvoll bereichert.
Theater: "Das hässliche Universum"
So, wie die Theater in diesem Jahr von der Pandemie gebeutelt wurden, konnte man schon mal in Endzeitstimmung geraten. "If it's a funeral, let's have the best funeral ever!", war das entschlossen positiv gestimmte Motto der vierköpfigen Beerdigungsband, die im Volkstheater jeden Corona-Blues hinwegpustete.

Regisseurin Sapir Heller hat Laura Naumanns Stück "Das hässliche Universum" als einen herzhaft apokalyptischen, perfekt rhythmisierten Gig zwischen Theater und Konzert inszeniert. Verkleidet als Ikonen der Pop-Kultur und im neonglückseligen Ambiente liefern Nina Steils, Anne Stein, Silas Breiding und Vincent Sauer eine furiose "Goodbye Show" ab, bei der selbst Jon Bon Jovis Rockkracher "It's My Life" als mehrstimmiger Choral erstrahlen darf. Regisseurin Sapir Heller hat damit den lässigsten, schönsten, erinnerungswürdigsten Abend des Theaterjahres 2020 geschaffen.
Kabarett: Martin Frank
Er konnte weder das Mozarteum in Salzburg von seinen Qualitäten als Opernsänger überzeugen noch seine Großmutter in Niederbayern. Als sie sich über das "Geschrei" des jungen Mannes beschwerte, konterte er damit, dass das Verdi sei. Oma erklärte, dass ihr "die Gewerkschaften wurscht sind". Aber für das Brettl reicht das stimmliche Talent von Martin Frank.

Der 26-Jährige, der mit seinem jungenhaften Aussehen und seinem freundlichen Auftreten vortäuscht, er könne kein Wässerlein trüben, hat mit seinem Mix aus Kleinkunst, großer Oper und schmissigen Operetten-Hits ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt. Mit einem vom Leben auf Vaters Bauernhof gestählten Mutterwitz blickt er in seinem dritten Solo "Einer für alle - alle für keinen" ebenso hellwach wie boshaft auf die Lage der Nation.
Klassikstream: Montagskonzerte der Oper

Die Corona-Pandemie hat die Theater, Konzertsäle und die dort fest Angestellten und Freiberufler schwer getroffen - finanziell wie emotional. Manche Häuser verfielen in eine lang andauernde Schockstarre, andere nicht. Die Bayerische Staatsoper hat schon im März ihre Erfahrungen mit der Übertragung von Aufführungen ins Internet für Livestreams kreativ weiterentwickelt.
Entstanden ist ein eigenes Format, das die Bandbreite eines großen Opernhauses vorführt: von der Kammermusik mit Ensembles des Bayerischen Staatsorchesters über Liederabende und Auftritte von Solisten des Staatsballetts bis zu klein besetzten Orchesterkonzerten. Dabei wurden nicht nur die üblichen Schlachtrösser geritten. Zu hören und zu sehen waren vor dem leeren Zuschauerraum des Nationaltheaters auch immer wieder selten gespielte Werke. Die überraschend hohen Einschaltquoten dieser Streams sprechen für sich.
Jazz: Matthieu Bordenave
Das bei ECM erschienene Album "La traversée", das der in München lebende französische Tenorsaxofonist Matthieu Bordenave mit dem deutschen Pianisten Florian Weber und dem Schweizer Bassisten Patrice Moret eingespielt hat, tönt wie eine lange musikalische Traumsequenz: unwirklich, verwunschen, ätherisch, in nicht vorhersehbare Stimmungsbilder hineindriftend, mal angenehm diffus, mal ganz klar, bisweilen unheilvoll.

Inhaltlich hatte sich Matthieu Bordenaves Trio von den Gedichten des Franzosen René Char inspirieren lassen. Musikalisch beziehen sich die Drei auf das Jimmy Guiffre Trio mit seinem freien, aber nicht lauten, sondern gedämpften Stil - und spielten dann doch höchst selbstständige Kompositionen und Improvisationen ein. Das internationale Gespann schuf so ein atmosphärisches Werk voll soghafter Klänge, die einen nicht mehr loslassen und nach jedem Hören lange nachhallen.
Dokumentarfilm: "Walchensee Forever"

Der See ist fortwährend präsent, auch in ihren Gedanken. Regisseurin Janna Ji Wonders und ihre Cutterin haben sich durch viel privates Material gewühlt, das im Familienhaus am Walchensee lagerte. All das wurde zusammen mit Interviews in einen eleganten dokumentarischen Fluss gebracht. "Walchensee Forever" nennt Janna Ji Wonders ihren ersten Dokumentarfilm.
Er blickt in die Vergangenheit, recherchiert ihre Familienhistorie über fünf Generationen hinweg und konzentriert sich dann auf drei Frauen: ihre Oma Norma, die lakonisch die Zeiten kommentiert. Ihre Mutter Anna und deren Schwester Frauke, die Rebellin der Familie. Von ihrem Freigeist ließ Anna sich mitunter mitreißen. Der Film schlägt einen beeindruckenden Bogen von 1920 - als Annas Großeltern an den Walchensee zogen - bis in die Gegenwart. Dabei bewegt er sich auf ein zentrales Trauma zu, welches als Schatten über der Familie liegt.
Schauspielerin: Mara Widmann

Zu den Helden der beiden Lockdowns des Jahres gehören auch Menschen in Berufen, die nicht als "relevant" gelten wie die Schauspielerinnen und Schauspieler. Eine davon ist Mara Widmann. Sie war einst Ensemblemitglied des Vokstheaters und gehört nun zu den zunehmend prägenden Gesichtern der Münchner Off-Szene.
In den großzügigen Abstand ermöglichenden Weiten des Schwere Reiter spielte sie Lea, die zentrale weibliche Figur der Pathos-Produktion "Innuendo" und Alter Ego von Regisseurin Lea Ralfs. Trotz der Distanzen im weißen Raum gelingt ihr bei der Geschichte von der Selbstfindung einer Enkelin, bei der die Biografien des Großvaters und Freddy Mercury elegant ineinander verschmelzen, mit stiller Intensität eine große Nähe. Und sie kann sogar noch die Songs von Queen interpretieren.
Klassik: Das Hidalgo Festival

Die Wochen zwischen Spätsommer und Oktoberfest sind die "staade Zeit" des Münchner Musiklebens. Das Hidalgo-Festival besetzt seit drei Jahren diese Lücke mit originellen Liederabenden, bei denen junge Sängerinnen und Sänger an eher ungewöhnlichen Orten auftreten, etwa im Bahnwärter Thiel, im Boxwerk oder in einer Boulderhalle.
Die Idee ist dabei, das Kunstlied ohne Abstriche bei der Qualität aus seiner etwas gepflegt-elitären Ecke herauszuholen, sich dem emotionalen Glutkern der Musik zu nähern und mit szenischen Formen auch ein jüngeres Publikum anzusprechen. Den Machern um Tom Wilmersdörffer, Philipp Nowotny und der Dirigentin Johanna Malangré gelang das in der schwierigen dritten Runde dieses kleinen, aber edlen Festivals in diesem Jahr ganz besonders gut. Und wir hoffen, dass das auch im vierten Jahr wieder gelingt.
Sachbuch: Die Welt der Renaissance
Sex, Verbrechen und Rock 'n' Roll - die italienische Renaissance ist voll davon. Denn die Dichter besingen lange nicht nur die hehre Liebe und die Schönheit. Die Orientierung an der Antike zeigt ihnen, dass alles erlaubt ist, man muss es nur in kunstvolle, unterhaltsame Worte kleiden. Der Münchner Lyriker Tobias Roth hat viele dieser Texte neu übersetzt und einen Prachtband zusammengestellt, der das ganze Spektrum vor Augen führt: von den innigen Liebesgedichten Petrarcas bis zu grausigen Szenen aus Zeiten der Pest, vom Kampf der Geschlechter - das darf man sogar wörtlich nehmen - bis zum Kaviar-Rezept des päpstlichen Küchenchefs Bartolomeo Scappi.

Die Experimentierfreude kannte keine Grenzen und schon gar nicht die Fantasie. Zu sämtlichen 68 Autorinnen und Autoren, die in Deutschland oft genug nur in faden akademischen Editionen greifbar sind, hat Tobias Roth außerdem prägnante Porträts geschrieben. Das erklärt ihre Auffassung und nicht zuletzt ihre Rolle in dieser wunderbaren, bis heute inspirierenden "Welt der Renaissance" (Galiani Berlin, 640 Seiten, 89 Euro).
Kunstausstellung: Rendezvous des Amis
Für gute, sinnvolle Gegenüberstellungen muss man schon ein Händchen haben. Ist das der Fall, sieht man tatsächlich mehr - wie etwa in der besonders gelungenen Gemeinschaftsschau "Au Rendez-Vous des Amis". In der Pinakothek der Moderne stehen die Altvorderen der Klassischen Moderne im Dialog mit Vertretern der Gegenwartskunst aus der sanierungsbedingt geschlossenen Sammlung Goetz.

Das führt oft genug zu verblüffenden Parallelen wie zum Beispiel bei bei Franz Marc und dem israelisch-dänischen Künstler Tal R, die beide Welten auseinanderdriften lassen. Was in der Pinakothek hoffentlich bald wieder zu sehen sein wird, kommt quasi aus einer Stadt, und man hätte dieses Zusammenspiel kaum besser konzipieren können. Weder mit Leihgaben aus aller Welt, noch mit teuren gestalterischen Gimmicks. Das ist den Kuratoren Oliver Kase und Karsten Löckemann zu verdanken, die sich intensiv durch die eigenen - großartigen - Bestände gearbeitet haben.
Literatur: Albrecht Selges "Beethovn"
Das fehlende "e" ist kein Schreibfehler, sondern Verfremdung: Albrecht Selges "Beethovn"-Roman nähert sich dem Menschen und Komponisten vor allem indirekt - über andere Personen, was ihn von der meist klebrigen und zweifelhaften Einfühltechnik vieler Künstlerromane unterscheidet. Selge versteht viel von Musik, das Historische hat er gründlich recherchiert. Dabei trägt der Roman seine Belesenheit nicht vor sich her, sondern entwirft ein atmosphärisch dichtes Bild des Wiener Biedermeier, wie man es aus der neueren Schubert-Literatur kennt.

Die bleierne Beklemmung der Ära Metternich zeigt Selge an den verkorksten Lebensgeschichten von Beethovens Neffen Karl und der "unsterblichen Geliebten" Josephine Brunswick. "Beethovn" (Rowohlt Berlin, 238 Seiten, 22 Euro) ist bei aller Genauigkeit kein Dokumentarroman. Selge liebt altmodische Begriffe, er schreibt witzig, poetisch und anspielungsreich. Diese Weite des Blicks bis zur heutigen Popkultur tut dem eher steifen Thema gut. Und weil der vielstimmige Ansatz Selges postmodern ist, wagt der Autor am Ende sogar ein paar experimentell leere Seiten, auf die der Leser selbst projizieren darf, wie Beethoven gegessen und getrunken hat und wie er gestorben ist. Man nehme das alles als Beispiel dafür, wie frisch und unkonventionell dieses Buch gelungen ist. Der bisher beste Beethoven-Roman ist es auf jeden Fall.
Pop: Pam Pam Ida

Schon auf den ersten beiden Alben hatte sich außergewöhnliches Potenzial angedeutet. Mit "Frei" hat die Band aus dem Altmühltal den großen Wurf gelandet: Pam Pam Ida spielt darauf großartige, internationalen Maßstäben gerecht werdende Pop-Musik, wie sie in Deutschland fast nie zu hören ist. Davon lenken Begriffe wie "Heimatsound" und "Mundart-Pop" nur ab, die der Band oft zugeschrieben werden, weil Mastermind Andreas Eckert auf Bairisch singt.
Viel interessanter als die Sprache sind die grandiosen Arrangements, die zusammenbringen, was nicht zwingend zusammengehört: Weltmusik-Motive mit Trommeln und Flöten, verhallte Gitarren, Achtziger-Beats, Kinderstimmen, soulige Bläser und traumhafte Geigen. Ein großartiges Detail folgt auf das andere, doch niemals als bloßer Selbstzweck: Sie fügen sich in tolle, höchst eingängige Pop-Songs.
Ehrenstern: Das TamS-Leitungsteam
Sich als Münchner Privattheater fünfzig Jahre lang am Leben zu halten, ist nicht einfach nur große Kunst, es ist ein regelrechtes Kulturwunder. Und eine Mordsleistung. Das Gründungs-Duo des Theaters am Sozialamt, Philip Arp und Anette Spola, setzte dabei von Anfang an einen herzhaft schrägen Ton, der sich bis ins Heute gehalten hat. Der Lust am Absonderlichen und Absurden wird im TamS weiterhin gefrönt, wobei nun Anette Spola und Lorenz Seib das Leitungsteam bilden.

Zum Jubeljahr haben Regisseur Seib und sein Team im reichhaltigen TamS-Fundus gekramt und mit "Das Haus verliert nix" eines dieser kurios-bezaubernden Stücke geschaffen, für die das TamS berühmt ist. Man kann nur hoffen, dass dieser Abend nach dem Lockdown wieder aufgenommen wird. Und dass das Theater am Sozialamt das angekratzte Jubiläum im nächsten Jahr mit viel Publikum einfach weiter feiern kann.