Retroparty im Gärtnerplatztheater: "Der Vetter aus Dingsda" feiert als Livestream Premiere
München - Aus der These "Onkel und Tante" seien Verwandte, "die man am liebsten nur von hinten sieht", spricht nicht nur große Lebensweisheit. Eduard Künneke hat sie auch so vertont, dass sie als oft wiederholter Schlager zusammen mit der Edelschmonzette vom "armen Wandergesell" und weiteren höchst erbaulichen Nummern einen ganzen Operettenabend trägt.
Reichlich Charme und musikalische Innigkeit
Die frisch gebliebene, witzige Musik wäre Grund genug, den "Vetter aus Dingsda" gelegentlich in den Spielplan zu heben. Das Gärtnerplatztheater bietet für seine im Livestream übertragene Premiere eine runde Besetzung auf: Judith Spießer leiht der weiblichen Hauptrolle nicht nur Charme, sondern auch eine musikalische Innigkeit, die von der Opernerfahrung dieses Ensemble-Neuzugangs herrührt. Maximilian Mayer fügt als Fremder Nr. 1 eine Menge tenoralen Schmelz hinzu.
Gewohnt hohe Qualität
Das übrige Ensemble ist von gewohnt hoher Qualität, und die von Andreas Kowalewitz dezent in Richtung Salonorchester verschlankte Orchesterbesetzung treibt der Musik alles Seifige aus. Der Haken an der Sache ist die operettenübliche Intrigenkonfektion: Julia muss von der naiven Jugendliebe zu ihrem Vetter entwöhnt werden, der vor sieben Jahren gen Batavia entschwand.
Eine angestaubte Geschichte wird zur Retroparty
Lukas Wachernig hat sich entschlossen, die stark angestaubte Geschichte mit Hilfe von Käseigeln, Fliegenpilzeiern und Schinkenröllchen als Retroparty aufzupeppen. Aber Dagmar Morells absichtsvoll scheußliche Kostüme der Wirtschaftswunderzeit machen die Figuren unter Turmfrisuren und hinter den Koteletten zu Pappkameraden. Was bei Onkel, Tante und Egon nicht schadet, die schon in der Vorlage eindimensional bleibt. Aber niemand betrachtet zwei Stunden lang einen ganzen Fries aus aus lauter Flachreliefs, und wenigstens die Hauptfiguren hätten etwas mehr von jener Psychologie vertragen, die Judith Spießer wenigstens mit musikalischer Nuancierung beisteuert.
Eine gewisse Schläfrigkeit im zweiten Teil
Je weiter der Abend voranschreitet, desto weniger gelingt es, die Geschichte mit der Inszenierungsidee einer Sechziger-Jahre-Parodie zusammenzubringen. Wenn für eine Trimm-Dich-Episode Musik von damals eingespielt werden muss, merkt man das mehr als überdeutlich. Und so stellt sich, bei allem Willen zum Gag und zur handwerklich grundsoliden Choreografie (Adam Cooper) - zumindest am Bildschirm - im zweiten Teil eine gewisse Schläfrigkeit ein.
Die Gags leiden unter dem Livestream
Die im Musiktheater immer heiklen gesprochenen Dialoge profitieren von der Nähe am Bildschirm, die Gags weniger. Würde ein ob der Stürze ins Schwimmbad und der Gemächtverlängerung mit aufgeblasenen Palmen schenkelklopfender Nebenmann mit ansteckend guter Laune den Abend im Theater retten? Wir wissen es nicht, hoffen es aber von ganzem Herzen.
Recht brav und jugendfrei
Die Vision Indonesiens, das bei Künneke verdächtig nach Ungarn klingt, nutzt Wachernig für eine leicht psychedelische Party mit allerlei verdächtigen Pilzen zwischen Gartenzwergen. Aber weil wir uns irgendwo in der Provinz vor 1968 befinden, bleibt alles sehr brav und jugendfrei. Da hätte der Regisseur deutlicher machen müssen, dass er satirische Absichten hegt. Die Premiere wurde zwischendrin heftig beklatscht und am Ende bejubelt. Laut Auskunft des Theaters handelte es sich dabei um "direkt mit an der Produktion beteiligte Mitarbeiter". Wir wollen hier, weil wir nett sind, nicht von einer Claque sprechen. Aber es wäre ehrlicher, die Normalität eines zahlenden Publikums nicht vorzutäuschen, wenn es nun mal aus guten Gründen derzeit zu Hause bleiben soll.
Der Stream ist noch bis Sonntag, 20. Dezember, 23 Uhr, auf der Homepage des Gärtnerplatztheaters zu sehen.
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