Interview

Jan Bosse über "Effingers" in den Kammerspielen: Die Weltgeschichte im Kleinen

Jan Bosse adaptiert Gabriele Tergits großen Familienroman "Effingers" zum Saisonauftakt in den Kammerspielen.
Michael Stadler |
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André Jung (vorn) mit Katharina Marie Schubert (im Hintergrund, von links), Julia Gräfner, Edmund Telgenkämper, André Benndorff, Katharina Bach, Johanna Eiworth, Anna Gesa-Raija Lappe und Lucy Wilke in Jan Bosses Bühnenfassung des Romans "Effingers" von Gabriele Tergit in den Kammerspielen.
André Jung (vorn) mit Katharina Marie Schubert (im Hintergrund, von links), Julia Gräfner, Edmund Telgenkämper, André Benndorff, Katharina Bach, Johanna Eiworth, Anna Gesa-Raija Lappe und Lucy Wilke in Jan Bosses Bühnenfassung des Romans "Effingers" von Gabriele Tergit in den Kammerspielen. © Armin Smailovic

Über drei Generationen, von den letzten Ausläufern der Gründerzeit in den 1870ern über die Weimarer Republik bis in die Nazi-Zeit hinein verfolgt Gabriele Tergit in ihrem Roman "Effingers" die verschiedenen Lebenswege einer deutsch-jüdischen Familie. Die Brüder Paul und Karl Effinger kommen aus der fränkischen Provinz, bauen sich in Berlin eine eigene Existenz auf, zunächst mit einer Schraubenfabrik, dann einem Werk für Gasmotoren. Karl heiratet sich in eine reiche Bankerfamilie ein, seine Frau Marianne engagiert sich in der gerade entstehenden Frauenbewegung.

Dies sind nur ein paar Linien in Tergits 900-seitigem Mammutwerk, das 1951 erstmals veröffentlicht wurde, aber nur geringen Erfolg verbuchte. Erst die Neuausgabe 2019 wurde als literarische (Wieder-)Entdeckung gefeiert und fand dann endlich auch eine breitere Leserschaft. An den Kammerspielen wird dieser epische Stoff erstmals für die Bühne adaptiert. Zehn Ensemblemitglieder plus die Gäste André Jung und Katharina Marie Schubert verkörpern die weitverzweigte Familie; Regie führt Jan Bosse, der nach zwanzig Jahren wieder in München inszeniert.

AZ: Herr Bosse, Gabriele Tergits Roman ist ausufernd, nicht nur in seinen Erzählsträngen, sondern auch in seinen Beschreibungen von Interieurs und Kostümen. Wie war Ihre erste Lese-Erfahrung?
JAN BOSSE: Ich fand die ersten zweihundert Seiten tatsächlich schwierig, weil es mir zunächst wie eine einzige Rückschau vorkam: sehr historisch, voller Details bis hin zum kleinsten Spitzendeckchen. Mir war zunächst nicht klar, was das mit uns zu tun haben soll, aber man braucht bei diesem Buch einen langen Atem. Gabriele Tergit nimmt sich beim Erzählen sehr viel Zeit, aber je länger man liest, desto mehr entwickelt sich ein Sog. Bis man versteht, um was es ihr geht. Vor allem den Antisemitismus…

… der sich am Ende mit dem Aufdämmern des Nationalsozialismus auf brutale Weise manifestiert.
Dabei ist er von Anfang an präsent, nur da gehen alle noch recht lakonisch mit ihm um. Er blitzt ab und zu mal auf, ist schreckliche Normalität. Dann sickert er immer mehr in den Alltag ein, bis die Situation anfängt zu kippen. Das beschreibt Tergit schon wahnsinnig gut, das hat mich auch politisch mitgerissen.

"Wir haben jetzt eine komprimierte, spannende theatralische Form gefunden"

Es dürfte dann nicht einfach gewesen sein, eine Theaterfassung aus 900 Seiten zu destillieren.
Nein, überhaupt nicht. Wir wollten den Roman auch nicht in einen achtstündigen Theaterabend verwandeln, weshalb wir einige Stränge und Figuren komplett weglassen mussten. Ich denke, wir haben jetzt eine komprimierte, spannende theatralische Form gefunden, mit einer recht kargen, laborartigen Bühne, auf der wir immer wieder große Tableaus entstehen lassen und mit der Idee der Fotografie spielen, als Versuch, Erinnerungen an bestimmte Menschen und Zeiten festzuhalten.

Schaut man sich die Inszenierungsfotos an, ist Ihre Kostümbildnerin Kathrin Plath doch recht tief in die Historie eingetaucht.
Stimmt, was die Kostüme angeht, greifen wir in die Vollen, die erzählen sehr klar die Zeit. Im Grunde sind die Kostüme das Bühnenbild.

Der Roman zeichnet auch den technischen Fortschritt nach, gerade, was Automotoren angeht.
Ja, das macht auch Spaß, wie sich da einzelne Sätze im Heute spiegeln. Wenn Emmanuel Effinger sagt, dass er nicht mehr an den Verbrennungsmotor glaubt und die Zukunft in der Elektrizität liegt, könnte das auch vom heutigen Daimler-Chef kommen. Diese großen Bögen der Industrialisierung, des zunehmend globalisierten Kapitalismus zieht der Roman von Beginn an, das fanden wir auch wichtig. Noch wichtiger waren uns aber die Frauenfiguren und ihre Emanzipationsversuche.

Darunter sind Lotte Effinger, die Schauspielerin wird, und Marianne, die in der Frauenbewegung mitmischt und später nach Palästina auswandert, um sich dort sozial zu engagieren.
Ja, in diesen Figuren spiegelt sich am meisten Gabriele Tergit. Als Schriftstellerin schlug sie ähnlich wie Lotte eine künstlerische Laufbahn ein, wobei sie zuvor als Gerichtsreporterin arbeitete, was sich in ihrem Schreibstil auch zeigt. Der ist manchmal satirisch, böse, richtig scharf, was wir bei der Fassung schön zuspitzen konnten. Tergit engagierte sich ebenfalls in der Frauenbewegung und floh 1933 über die Tschechoslowakei nach Palästina, bevor sie mit ihrem Mann 1938 nach London zog. Beide, Lotte und Marianne, lösen sich aus dieser großbürgerlichen Familie und versuchen, ihren eigenen Weg zu gehen. Gerade in den Zwanzigern sind die Frauen in der Emanzipation schon erstaunlich weit gekommen, aber durch die Nazis gab es diesen furchtbaren Backlash, auch, was das Frauenbild angeht.

"Tergit spiegelt anhand solcher Momente die Weltgeschichte im Kleinen"

Dieser Backlash kommt aus unerwarteter Richtung: Die Leiterin einer "sozialen Frauenschule", Frau Koch, oder Mariannes Freund, der Ökonomiestudent und Sozialist Martin Schröder, entpuppen sich am Ende als Anhänger der Nazis.
Ja, gerade die Szene, als Marianne und Schröder sich in einem Café nach Jahren wiedertreffen, war für uns zentral, das spielen wir gegen Ende richtig groß aus. Wie Marianne schockiert feststellen muss, dass ihr einziger Freund plötzlich so komisch daherredet, und sie dann wissen will, ob er ein Anhänger Hitlers geworden ist. Schröder meint dann, ach, Hitler, der "wilde Kerl", aber es wird klar, auf welcher Seite er steht. Tergit spiegelt anhand solcher Momente die Weltgeschichte im Kleinen. Im Grunde sitzt mit Marianne die ganze jüdische Gesellschaft am Tisch, ihr gegenüber mit Schröder die neorechte Fraktion. Trotzdem ist es eine private Szene, die zwei Schauspieler hervorragend spielen können.

Sie haben zuvor schon mit hervorragenden Schauspielern an den Kammerspielen gearbeitet, unter dem Intendanten Dieter Dorn, von 1998 bis 2000. Wie war es damals hier?
Toll! Ich habe hier 1998 als Regisseur debütiert, inszenierte "Feuergesicht" von Marius von Mayenburg in der ehemaligen Tischlerei. Was schon ungewöhnlich war. Dorn war ja nicht gerade dafür bekannt, junge Regisseure zu fördern. Aber von Mayenburg, den ich sehr gut kannte, hatte sich für mich eingesetzt, weshalb ich mit Dorn und seinem künstlerischen Direktor Michael Wachsmann hier in der Kantine saß und ein sehr langes Gespräch über "Feuergesicht" führte. Die beiden wollten sich das überlegen, aber Wachsmann ist dann noch in der Kantine mir hinterhergelaufen und meinte, okay, das war ein gutes Gespräch, du machst das! Da sind sie schon ein großes Risiko mit mir eingegangen.

Und danach haben Sie gleich mal im großen Haus Goethes "Torquato Tasso" inszeniert…
…wofür ich Dorn noch heute dankbar bin. Das war großartig für mich, gerade mit solchen Schauspielern zu arbeiten: Jens Harzer, Edgar Selge, Juliane Köhler, Sophie von Kessel, Oliver Nägele… Ich sollte danach die neue zweite Bühne mit der Uraufführung eines Stücks von Theresia Walser eröffnen, aber dann gab es diesen Bauskandal, zwei Wochen vor der Premiere wurden wir vom TÜV herausgeworfen, weil die Leitungen nicht richtig geerdet waren. Eine Katastrophe. Wir sind dann in den Werkraum ausgewichen.

"Aber hier in München galt ich als "junger Wilder", was zu mir eigentlich gar nicht passte"

Und danach gingen Sie nach Hamburg. Weil Sie sich mit Dorn gestritten hatten?
Im Gegenteil. Dorn hat mir tolle Angebote gemacht, aber gleichzeitig wurde Tom Stromberg Intendant am Hamburger Schauspielhaus und interessierte sich für mich. Ich habe mich dann wie ein Verräter gefühlt, als ich nach Hamburg ging. Aber hier in München galt ich als "junger Wilder", was zu mir eigentlich gar nicht passte. In Hamburg waren auch Leute wie Stefan Pucher oder René Pollesch, so eine ganze Avantgarde-Truppe, von der ich mich als eher textgenauer Schauspieler-Regisseur inspirieren lassen konnte.

Jetzt sind Sie an den Kammerspielen zurück. Weil Sie Intendantin Barbara Mundel geholt hat?
Nein, es war vielmehr so, dass ich mich bei Barbara Mundel regelrecht beworben habe! Ich hatte schon viel Gutes über sie gehört und als klar war, dass Sie das Haus hier übernimmt, fand ich das total interessant, eine gute Wahl für München! Ich habe ihr dann einen Brief geschrieben und meinte, ich will zwar nicht übermäßig nostalgisch klingen, aber an den Kammerspielen habe ich angefangen, es ist mein Lieblingstheater in Deutschland, auch nach all den Jahren, ob ich also nicht zurückkehren könnte.

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Das hat offensichtlich geklappt, doch prompt kam Ihnen bei den Proben die Pandemie in die Quere, passend zu Tergits Roman, in dem kapitellang, am Ende des Ersten Weltkriegs, die Spanische Grippe tobt.
Ja, das ist schon seltsam, welche Parallelen sich bei den Proben ergeben haben. Wobei nach der Spanischen Grippe offiziell zwischen 20 und 50 Millionen Tote beklagt wurden, inoffiziell bis zu 100 Millionen. Man sollte Corona zwar nicht kleinreden, aber das waren doch ganz andere Dimensionen.

Die Premiere sollte schon im Dezember 2020 stattfinden. Wie weit kamen Sie damals denn?
Wir konnten bis Weihnachten proben und waren kurz vor dem ersten Ablauf, aber dann war klar, dass es mit der Premiere in nächster Zeit nichts wird. Jetzt hatten wir noch mal zwei Wochen. In der Zwischenzeit haben wir unsere Fassung noch mal gestrafft. Man merkt einfach, dass manche schönen Passagen die Geschichte nicht voranbringen. Diese Kürzungen sind schmerzhaft, aber letztlich sinnvoll.

Und Sie haben mit Barbara Mundel einen Deal, der über die "Effingers" hinausgeht?
Wir haben eine Verabredung, dass das hier keine Eintagsfliege wird.


Für die Premiere am Samstag, 18. September, 19 Uhr, sowie die zweite Aufführung am Sonntag, 19 Uhr, gibt es noch Karten. Reservierung unter www.muenchner-kammerspiele.de, Tel. 089/23396600, Ticketpreise: 20 und 10 Euro, es gilt 3G und Maskenpflicht.

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