"Eine Jugend in Deutschland": Vom Abstürzen und Fliegen
München - Man möchte seinen Augen nicht trauen, aber im Hof der Kammerspiele, in einer lauschigen Ecke, steht unter einem Baum ein fast lebensecht großes Flugzeug. Für Jan-Christoph Gockel ist das Anlass zum Schwärmen über die eingespielten Gewerke des Hauses: "Wenn du hier an den Kammerspielen sagst, du brauchst ein Flugzeug, dann bauen sie dir eben ein Flugzeug."
Adaption von Ernst Tollers autobiographischem Werk
Das Modell, so verrät der 38-jährige Regisseur, wird per Live-Video-Übertragung eine Rolle in seiner Inszenierung spielen, die am 16. Oktober Premiere im Schauspielhaus der Kammerspiele hat.
Ernst Tollers 1933 erschienenes autobiographisches Werk "Eine Jugend in Deutschland" nimmt Gockel zum Ausgangspunkt für ein Projekt rund um den berühmten Dichter und Dramatiker, dessen Stücke zwar nur noch selten gespielt werden, der aber als Wegbereiter des literarischen Expressionismus sowie als zentrale Figur der Räterepublik seinen festen Platz in der Geschichte, auch der Geschichte Münchens hat.
Tollers wechselhaftes Leben
Tollers Leben war wahrlich ein wechselhaftes: Geboren und aufgewachsen in der Provinz Posen als Sohn einer jüdischen Familie war er schon früh antisemitischen Ressentiments ausgesetzt, fühlte sich dennoch als Patriot, der für Deutschland begeistert in den Ersten Weltkrieg zog.
Von den Kriegserlebnissen kehrte er jedoch ernüchtert, in einen Pazifisten verwandelt zurück. Als einer der führenden Protagonisten der Räterepublik musste Toller miterleben, wie die linkssozialistische Revolution wegen innerer Querelen von Anfang an wackelte und schließlich von der "Weißen Armee" niedergeschossen wurde. Im Juni 1919 wurde er verhaftet und wanderte für fünf Jahre ins Gefängnis.
Theaterensemble berichtet von eigener Jugend
Mit seiner Freilassung lässt Toller "Eine Jugend in Deutschland" enden, aber Jan-Christoph Gockel will einen umfassenderen Blick auf sein Werk und Leben werfen: "Wir bieten im Grunde eine kleine Werkschau. Es gibt unter anderem Ausschnitte aus seinen Reden, aus seinen Stücken, aus Dokumenten der Zeit."
Gemeinsam mit dem Ensemble versuchte Gockel, sich Toller und dem Titel seines Buchs auch privat-assoziativ zu nähern. So werden die Spielerinnen und Spieler auch aus ihrer eigenen Jugend erzählen. "Walter Hess berichtet zum Beispiel am Anfang sehr eindringlich aus seiner Jugend in der Schweiz. Er wurde kurz vor dem Zweiten Weltkrieg geboren und ist der Einzige aus dem Ensemble, der noch gleichzeitig mit Toller auf der Welt war. Zumindest für drei Monate."
Abend mit großem Atem in den Kammerspielen
Insgesamt verspricht der Abend einen großen Atem zu haben, auch was seine Form anbelangt. Eine sechsteilige Serie hat Gockel mit seinem Ensemble entwickelt, die sie in einem Rutsch zeigen werden. Man schaut das Toller-Epos sozusagen in einer dreieinhalbstündigen Binge-Watching-Session durch, inklusive einer Pause.
Gerade in Corona-Zeiten ist das schon ein sehr ambitioniertes Projekt. "Ich habe aber von Anfang an gesagt, dass wir das in dieser Länge machen müssen. Wenn es jetzt nicht möglich gewesen wäre, hätten wir es eben um ein Jahr verschieben müssen. Aber Tollers Leben ist so vielfältig, das lässt sich einfach nicht in neunzig Minuten erzählen."
Als "zerrissenen Menschen" beschreibt Gockel Toller, als einen, der etwas versuchte, scheiterte - und den nächsten Versuch startete. 1939 nahm der Schriftsteller sich jedoch im New Yorker Exil selbst das Leben. Eine gewisse Todessehnsucht, so Gockel, wird in der Inszenierung immer wieder spürbar sein. Gleichzeitig ist Toller dem Tod ein aufs andere Mal entwischt.
Regisseur Gockel: "Tollers Leben war ein einziger Crash"
Den Ersten Weltkrieg und die Attacken der "Weißen" überstand er genauso wie zwei Flugzeugabstürze. "Das ist wirklich unglaublich", meint Gockel und schaut zu dem Modell im Hof der Kammerspiele. "Er wollte im März 1919 nach Berlin fliegen, ist eingestiegen, musste mit dem Piloten in Leipzig notlanden. Am nächsten Tag wollte er wieder nach Berlin fliegen - und ist wieder abgestürzt. Das eignet sich auch als Sinnbild: Tollers Leben ist ein einziger Crash, aber er hat sich von all den Unglücken nicht unterkriegen lassen."
Den Splittern dieser Existenz, die sich in "Eine Jugend in Deutschland" in Form einer fragmentierten Erzählung entfaltet, will Gockel mit einer vielseitigen, auch humorvollen Collage gerecht werden.
Dabei ließ er sich von Todd Haynes Film "I'm Not There" inspirieren, in dem Bob Dylan von mehreren Schauspielerinnen und Schauspielern gespielt wird. Toller wird nun im Wechsel vom Ensemble gespielt. Manchmal sind alle Toller. Und manchmal ist er eine Marionette.
Marionetten auf der Bühne der Kammerspiele
Michael Pietsch hat diese gebaut und wird sie auf der Bühne auch führen. Ihn kennt Gockel schon seit seiner Jugend: "Wir wurden Freunde, da war ich 15 Jahre alt. Unser erstes Puppenstück haben wir mit 18 Jahren gemacht, einfach so, um das auszuprobieren. Michael studierte dann Schauspiel in Leipzig; ich Regie an der Ernst Busch Schule in Berlin.
Wir überlegten dann, ob wir die Zusammenarbeit nicht fortsetzen wollen und machten 2010 eine Produktion von Brechts ,Baal', erneut mit Puppen. Ab da haben wir unsere gemeinsame Theatersprache entwickelt."
Seither haben Gockel und Pietsch immer wieder ihre Kräfte vereint, in Produktionen wie "Die Ratten", "Grimm" oder "Die Nibelungen" brachten sie Schauspiel und Puppenspiel gleichberechtigt zusammen und gründeten 2017 die Theaterkompagnie "peaches & rooster". Wobei Gockel nicht bei jeder seiner Inszenierungen mit Pietsch zusammenarbeitet und daher auch nicht immer die Puppe zum Einsatz bringt. "Ich orientiere mich am jeweiligen Inhalt. Außerdem baut Michael die Puppen immer selbst. Mehr als zwei Produktionen im Jahr schaffen wir sowieso nicht."
Revolution als Kernthema von Regisseur Gockl
Für das jetzige Projekt hat Pietsch neben der Toller-Marionette zehn Handpuppen gefertigt, die den jeweiligen Spielern nachempfunden sind. Jüngere Versionen von ihnen. Kinderpuppen. "Im Grunde wurden die Kinder von der Schulbank weg auf die Schlachtfelder geholt", sagt Gockel.
"Toller hat das selbst so erlebt. Später hat er in den USA Reden gehalten, in denen er von seiner Hoffnung in eine Jugendbewegung spricht, obwohl junge Leute in Deutschland zu Nationalisten geworden waren und seine Bücher verbrannt hatten. Aber er sah in den jungen Menschen ein Riesenpotential und wollte den Glauben nicht verlieren, dass gerade sie etwas verändern können."
Das Thema Revolution beschäftigt Gockel, nicht nur in dieser Inszenierung. Sein Film "Die Revolution frisst ihre Kinder!" wird am 25. Oktober bei der Viennale in Wien uraufgeführt. Darin will eine Theaterregisseurin Büchners "Dantons Tod" in Burkina Faso inszenieren und gerät mit ihrem Team in eine echte Revolution.
Eigene Erlebnisse fließen in die Inszenierung
Gockel verarbeitet dabei eigene Erfahrungen, die er 2014 als Regisseur in dem westafrikanischen Staat machte. "Als ich dort war, protestierte die Bevölkerung gegen Machthaber Blaisé Comparoé. Dann stehst du bei den Endproben da und siehst plötzlich, dass in der Ferne Rauch aufsteigt. Ach ja, der Fernsehsender brennt. Deine Schauspieler verschwinden nach der Probe, weil sie direkt zur Demo gehen. Das Theater hat plötzlich keine Soundanlage mehr, weil sie den Protestlern geliehen wurde. Und der Festivalleiter ist kaum da, weil er einer der Anführer der Revolutionsbewegung ist."
Im Stück setzen sich Gockel und sein Team mit Revolutionen allgemein auseinander. Die Proteste gegen Alexander Lukaschenko in Belarus findet er besonders beeindruckend. "Man glaubt ja immer, dass Revolution der gewaltsame Umsturz der Verhältnisse sein muss. Aber in Belarus sind das friedliche Demonstrationen, bei denen allein durch die physische Anwesenheit der Beteiligten gegen Missstände im Land protestiert wird."
Imagepflege für die Revolution
Dass jede Revolution letztlich zum Scheitern verurteilt sei, will Gockel nicht gelten lassen. Im Gegenteil: Er möchte Imagepflege betreiben. "Revolutionen haben ja einen schlechten Ruf. Heiner Müller meint, das sei ein speziell deutsches Phänomen, und man muss ja auch sagen, dass die Deutschen Revolutionsängste haben: Erst gibt es wie bei der Räterepublik einen kurzen Moment der Utopie, dann kommt jedoch das Scheitern, die Restauration und alles wird nur noch schlimmer. Aber jede Revolution hat doch immer auch zu einer Bewusstseinsveränderung geführt. Wenn man an die Möglichkeit von Veränderung nicht glaubt, kann sie auch nie Realität werden."
Als Teil des Leitungsteams der Kammerspiele unter Barbara Mundel arbeitet Jan-Christoph Gockel jetzt an der Vision eines diversen, offenen, inklusiven Theaters. Findet nun eine Theaterrevolution statt? "Das würde ich so nicht sagen, aber wir sind schon eine andere Generationen als die Theaterpatriarchen, die in den letzten Jahrzehnten den Betrieb zum Teil sehr bestimmten."
Franz Josef Strauß als Nächstes in den Kammerspielen
Alexander Eisenach, der gerade mit "Einer gegen alle" einen Roman von Oskar Maria Graf am Residenztheater adaptierte, kennt Gockel gut: "Wir haben uns hier in München viel getroffen und über die Weimarer Republik gesprochen. Alex ging es in seiner Inszenierung vor allem um das Posttraumatische in der Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg, was in Grafs Roman ja deutlich wird. Toller nimmt da eine ganz andere Abzweigung: Während die Figur bei Graf sich ganz der Gesellschaft entziehen möchte, bezieht der Toller im Buch klar Position und wird politisch aktiv."
Als Hausregisseur wird Jan-Christoph Gockel sich als nächstes mit Franz Josef Strauß befassen. "Wir Schwarzen müssen zusammenhalten - eine Erwiderung" lautet der Arbeitstitel und verspricht eine entschlossene Replik auf ein berühmtes Zitat von Strauß.
Gemeinsam mit dem Ensemble will Gockel das Stück entwickeln, Teamwork ist ihm wichtig. Ob daraus etwas Großartiges entstehen wird, lässt sich natürlich nicht vorhersagen. Denn auch im Theater folgt immer nur ein Versuch auf den anderen. Man startet. Kann abstürzen. Oder fliegen.
Kammerspiele, Schauspielhaus, Premiere am 16. Oktober, 18 Uhr, Karten unter Telefon: 089 233 966 00.
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