Im Strudel der Gewalt: der Augenzeugenbericht über den Fall von Marie Antoinette

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Im zarten Alter von 15 Jahren wird Marie Antoinette vom Wiener Hof nach Versailles geschickt, um 1770 den französischen Dauphin zu heiraten. Dort gerät die Tochter von Maria Theresia zwei Jahrzehnte später in den Gewaltstrudel der französischen Revolution, den sie nicht überleben wird. Enge Vertraute ihrer französischen Jahre ist ihre erste Kammerfrau Henriette Campan, die später Memoiren über die Umbruchzeiten verfasst. Diese hat der Münchner Autor Hans Pleschinski nun neu übersetzt und kommentiert: ein packender Augenzeugenbericht zwischen Glanz und Grauen von ungeheurem Ausmaß.
AZ: Herr Pleschinski, wie kamen Sie darauf, die Aufzeichnungen von Henriette Campan neu zu übersetzen und zu kommentieren?
HANS PLESCHINSKI: Marie Antoinette hat mich mein Leben lang begleitet, seit ich als Kind die Schwarzweiß-Serie "Der Ritter der Königin“ gesehen habe. Während der Corona-Zeit habe ich mir noch einmal Sofia Coppolas Film angesehen mit Kirsten Dunst als Marie Antoinette. Ich fand ihn wesentlich besser als beim ersten Mal. Ich habe recherchiert und stieß dabei auf die Memoiren von Marie Antoinettes Kammerfrau Henriette Campan, die ich mir aus Frankreich bestellte. Ich fing an zu lesen und dachte mir schnell, "Was für ein grandioser Stoff, das muss ich übersetzen“.

Aber das Buch hatte es bereits auf Deutsch gegeben.
In England und Italien sind die Memoiren immer greifbar, in Frankreich gelten sie ohnehin als Standardwerk, auf Deutsch sind sie seit Urzeiten vergriffen. Henriette Campans Buch wurde kurz nach ihrem Tod 1823 veröffentlicht und in Deutschland bald danach. Dann gab es in der Schweiz noch eine anonyme Ausgabe in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, allerdings in altertümlicher Sprache und ohne Kommentare. Und die sind unbedingt notwendig, weil einige Akteure dem heutigen Leser nicht mehr so geläufig sind. Es war also an der Zeit, das Ganze frisch aus der Taufe zu heben.
Die "allwissend sein wollende" Henriette Campan
In seiner Biografie "Marie Antoinette“ schreibt Stefan Zweig von der "allwissend sein wollenden“ Madame Campan.
Er schiebt die Augenzeugin sozusagen beiseite. Vielleicht weil Zweig sich selbst zu wichtig war? Er zitiert sie jedoch dauernd, ohne das zu kennzeichnen. Das haben manche Biografen so gehandhabt. Henriette Campan hat schlichtweg den grundlegenden Bericht über Marie Antoinette geschrieben, von dem alle späteren profitieren.
Aber ist sie als Quelle verlässlich?
Es gab nie einen Widerspruch gegen das, was sie geschrieben hat. Sie gilt als absolut zuverlässig. Ohne ihre Memoiren wäre die Forschung viel blanker, die Atmosphäre bei Hofe wäre nie so erzählt worden. Sie beschreibt auch als erste detailliert die skandalöse Halsbandaffäre, die zeitlos spannend bleibt und der hierbei schuldlosen Marie Antoinette furchtbar schadete.

Sie erwähnt jedoch Hans Axel von Fersen nicht, den angeblichen Liebhaber Marie Antoinettes.
Falls er es wirklich war, was nicht sicher ist, wird Henriette Campan es gewusst haben und schreibt aus Dezenz nicht darüber. Aber sie liefert ein präzises Bild einer der großen tragischen Figuren der Geschichte. Marie Antoinettes Charme, ihr Zauber waren unbestritten, niemand konnte so elegant Treppen geradezu hinabfließen wie sie, die Frauen ahmten ihre Modeeinfälle nach. Sie besaß eine Naturgrazie, gewissermaßen atmete der Park von Schönbrunn in ihr. Gegen ihren Willen geriet sie in eine Zeit hinein, in der jeder gescheitert wäre, nicht nur sie. Das ganze Unheil einer untergehenden Welt krachte auf ihre schmalen Schultern. Ich finde die Schilderungen von Henriette Campan auch deswegen so faszinierend, weil es mich an den Untergang der Titanic erinnern: Wir sehen, wie alles langsam, aber unaufhaltsam, in Schieflage gerät. Manchmal möchte man Marie Antoinette geradezu zurufen: Tu das nicht! Mische Dich nicht in die Politik, zeige Dich einmal nahbar dem Volk.
Modetollheiten: die Spleens der Adelsgesellschaft
Eine gewisse Volksferne lässt sich auch daran erkennen, dass die Damen bei Hofe ihr Frisuren so auftürmen ließen, dass sie nur noch knieend in ihren Kutschen fahren konnte.
Diese Mode hat Marie Antoinette nicht allein kreiert, sie gehörte zu den müßigen Spleens einer späten Adelsgesellschaft. In Versailles mussten Türstöcke herausgebrochen und erhöht werden, damit die Damen mit ihren Frisuren noch durch die Türen kamen. Henriette Campan schreibt von einer "Modetollheit“. Die hielt sich nur kurze Zeit. Danach wurde es aber auch nicht billiger: Man denkt beim Lesen: Bestell’ Dir doch nicht 60 Kleider auf einmal, vielleicht reichen ja auch acht! Aber die junge sorglose Marie Antoinette genoss und glänzte. Schließlich war sie die Königin von Frankreich.
Warum verschwendete sich die hochgebildete Madame Campan an die vergnügungssüchtige Königin, deren größte Angst die vor Langeweile war. Ihr Geist war so unruhig, dass sie kein Buch lesen konnte, wie Stefan Zweig schreibt.
Eine Stellung bei Hofe war eine hohe Auszeichnung und sie war gut bezahlt. Zudem lebte Madame Campan am Puls der Zeit, war die Vertraute von vielen. Sie konnte sich bald ein eigenes Haus auf dem Land kaufen. Sie wurde die wichtigste der 20 Kammerfrauen, zu denen auch ihre Schwester gehörte.

Sie schildert sehr detailliert, wie Marie Antoinette von der anfangs geliebten Prinzessin, der die Herzen zuflogen, zum Opfer von Verleumdungen und Hasskampagnen wurde.
Es war erstmals so, dass die öffentliche Meinung, auch das Pressewesen, dermaßen mächtig wurden. Und selbst der König war hilflos, denn alleine mit Verhaftungen wäre das nicht aufzuhalten gewesen. Wie sollte sich Marie Antoinette gegen Hass-Schreiber wehren, deren Druckerzeugnisse teils ins Land geschmuggelt wurden? Da beginnt die Todesschneise, in die sie dann geriet.

"Dieser Ausbruch von Brutalität ist unfasslich"
Ihr Lustschlösschen Trianon wurde ihr auch zum Vorwurf gemacht.
Ja, aber als die Revolutionäre es stürmten, waren sie vollkommen verblüfft, was für ein kleines, wenn auch exquisites Gartenpalais es war. Sie suchten die mit Edelsteinen besetzten Zimmer, von denen im Volk immer gemunkelt wurde, aber die gab es überhaupt nicht.
Die Königsfamilie musste Versailles verlassen und in den Pariser Tuilerienpalast ziehen, der am 10. August 1792 gestürmt wurde.
Marie Antoinette wurden an den schlimmsten Tagen des Aufruhrs die Herzen von getöteten Offizieren entgegengehalten, die sie schützen sollten. Wie überlebte man solche Schocks? Dieser Ausbruch von Brutalität ist unfasslich und übertrifft teilweise noch die russische Oktoberrevolution. Das kollidiert auch so irrsinnig mit dem Zauber des Rokoko. Dieser Zwiespalt macht uns heute noch sprachlos. Wie konnte das französische Volk in einen solchen Blutrausch geraten? Und dann gibt es dieses Mirakel: Je fürchterlicher die Umstände für Marie Antoinette wurden, desto erstaunlicher war es, welche Haltung, Würde und Tapferkeit sie zeigte. Sie bewies stets mehr Mut als ihr Mann. Der Revolutionär Mirabeau äußerte den berühmten Satz: "Der König hat nur einen einzigen Mann - und das ist seine Frau.“
Spätestens nach dem Sturm auf die Tuilerien hatte sie kaum noch Hoffnung, die Revolution zu überstehen.
Wie lebt man drei Jahre lang mit der Angst geköpft zu werden? Ihr Mann König Ludwig XVI. wurde am 23. Januar 1793 hingerichtet, dann wurde ihr ihr Sohn entrissen. Vor ihrem Fenster in der ehemaligen Festung des Templerordens, wo sie gefangen gehalten wurde, schwenkten Revolutionäre den aufgespießten Kopf ihrer besten Freundin. Man kann sich nicht vorstellen, welches Grauen sie durchlebt haben muss. Schließlich wurde ihr Sohn gezwungen zu behaupten, seine Mutter habe ihn für sexuelle Handlungen missbraucht. Es war vielleicht der stärkste Moment ihres Lebens, als sie sich vor dem Revolutionstribunal zu den anwesenden Marktfrauen von Paris umwandte und sagte: "Ich rufe alle Mütter Frankreichs zu meinen Zeuginnen auf: Diese Anklage verdient keine Erwiderung.“
Zu dem Zeitpunkt hatte Henriette Campan den Zugang zu ihrer Königin bereits verloren.
Sie musste sich zwei Jahre lang verstecken, um nicht auch unter die Guillotine zu geraten, ihre Schwester beging vor Panik Selbstmord. Aber Henriette Campan verhielt sich ruhig und bereitete sich auf eine neue Zeit vor: Als die Revolution abebbte, hat sie im Alleingang eine Schule für Mädchen gegründet und erwarb sich den Ruf einer klugen Erzieherin. Joséphine de Beauharnais Tochter Hortense kam in ihr Pensionat, Napoleon brachte zeitweise seine jüngeren Schwestern dort unter. Und dann beförderte Napoleon sie zur Leiterin des größten Bildungsinstituts für Waisenmädchen in Frankreich. Als die Bourbonen nach der Verbannung Napoleons wieder an die Macht kamen, fiel Henriette Campan erneut in Ungnade. Doch da war sie bereits über sechzig. Sie zog sich ins Privatleben zurück und begann, ihre Erinnerungen an Marie Antoinette und an eine untergegangene Welt zu schreiben.
Hans Pleschinski: "Das kurze und verschwenderische Glück der Königin Marie Antoinette - Die Aufzeichnungen ihrer Kammerfrau Henriette Campan“ (C.H. Beck, 346 Seiten, 26 Euro)
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