Interview

Buch von Christiane Hoffmann: Auf den Spuren des Vaters

Christiane Hoffmann hat ein Buch über das Schicksal ihres Vaters geschrieben und ist dessen Fluchtweg von Schlesien nach Westdeutschland nachgewandert.
Volker Isfort
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Das polnische Dorf Rozyna war bis 1945 das schlesische Dorf Rosenthal. Hier lebten die Vorfahren von Christiane Hoffmann seit Jahrhunderten.
Das polnische Dorf Rozyna war bis 1945 das schlesische Dorf Rosenthal. Hier lebten die Vorfahren von Christiane Hoffmann seit Jahrhunderten. © Christiane Hoffmann

München - Den Matrosenanzug, den er zu Weihnachten 1944 bekam, hat der Neunjährige nie tragen können. Denn schon drei Wochen später muss er urplötzlich mit der Familie die schlesische Heimat, das Dorf Rosenthal, verlassen: Die Russen kommen. Und niemand denkt beim hektischen Aufbruch daran, das Geschenk mitzunehmen.

Die Fluchtgeschichte ihres Vaters hat die Journalistin Christiane Hoffmann nie losgelassen. 75 Jahre später wandert sie die 550 Kilometer lange Route nach. Ihr Buch "Alles, was wir nicht erinnern", verknüpft geschickt die Vergangenheit mit ihren Erlebnissen, persönliche Erinnerungen mit aktueller, europäischer Politik. Die bewegenden Schilderungen der stellvertretenden Regierungssprecherin sind gerade für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden.

Christiane Hoffmann: "Manchmal brauchen Dinge einfach auch Zeit"

AZ: Frau Hoffmann, wie lange tragen Sie dieses Buch schon in Ihrem Kopf?
Christiane Hoffmann: Ich habe mein Leben lang nach einer Form gesucht, diese Geschichte zu erzählen. Dabei war mir immer wichtig, dass dies kein rückwärtsgewandtes, nostalgisches Buch wird, sondern, dass es auch die gegenwärtige Situation in den Blick nimmt. Irgendwann entstand dann die Idee, den Fluchtweg meines Vaters aus dem Jahr 1945 selber nachzugehen und damit eben auch im heutigen Polen und Tschechien unterwegs zu sein, um dort noch einmal dieser Fluchtgeschichte zu begegnen.

Sie haben das Buch erst vollendet, nachdem Ihr Vater gestorben war.
Ich hätte es nicht schreiben und veröffentlichen können, solange er lebte. Und ich will damit überhaupt nicht sagen, dass er dieses Buch nicht geschätzt hätte. Aber ich musste zu einem gewissen Grad frei sein, um meine eigene Geschichte mit seinem Schicksal zu erzählen. Manchmal brauchen Dinge einfach auch Zeit.

Christiane Hoffmann: "Ich war ein außergewöhnlich ängstliches Kind"

Sie schreiben, Sie hätten die Albträume Ihrer Eltern als Kind geträumt. Haben Sie dies Ihren Eltern damals gesagt?
Darüber habe ich nicht gesprochen, ich habe das damals auch nicht so realisiert. Ich habe einfach diese Träume gehabt, auch später noch als Erwachsene. Ich habe lange überhaupt nicht verstanden, dass es die Traumbilder der Flucht meiner Eltern sind, die ich da gesehen habe. Man weiß ja erst seit kürzerer Zeit in der Traumaforschung, dass sich unbearbeitete Traumata auch auf die nächste Generation übertragen können. Deswegen habe ich das alles erst sehr spät verstanden.

Die Flucht, das Leid ist bei Ihnen in der Familie aber nicht ständig kommuniziert worden?
Nein, aber ich war eben ein außergewöhnlich ängstliches Kind, das haben meine Eltern auch wahrgenommen. Ich war auch ein gesundheitlich nicht sehr robustes Kind. Doch niemand hat das mit dem Flüchtlingsschicksal meiner Eltern in Verbindung gebracht. Es gab bei uns zuhause überhaupt keine bedrückende Atmosphäre. Meine Eltern haben alles daran gesetzt, damit wir als Kinder nicht unter ihrem Schicksal leiden. Sie wollten uns davor bewahren. Aber wie das so ist im Leben, manchmal führt ja genau das zum Gegenteil. Wenn man versucht, etwas zu verdrängen, kommt es vielleicht viel stärker zum Vorschein.

Christiane Hoffmann: Warum mein Vater kein Heimweh empfinden konnte

Haben Sie sich jemals therapeutische Hilfe geholt?
Nein, ich habe keine Hilfe gesucht, ich habe das Thema auf verschiedene Arten bearbeitet, indem ich Russisch studiert habe, indem ich in die Sowjetunion und in die Ukraine gegangen und nach Polen und Rosenthal gefahren bin. Und ich habe alles, was mir in die Hände kam, zum Thema Flucht und Vertreibung gelesen.

Die Besuche Ihrer Familie in Rosenthal haben Sie stärker angetrieben als Ihr Vater. Wie fand er es denn, dass Sie das Thema mehr beschäftigt hat als ihn?
Ihn hat das als Interesse an ihm und der Familie gefreut, aber vermutlich fand er es auch ein bisschen unheimlich. Er hat seine Kindheit in Rosenthal und die Flucht sehr gründlich verdrängt. Und das war für ihn wahrscheinlich auch gut und richtig so. Er hat im Jahr 1945 einen Bruder, seine Großmutter und seinen Onkel verloren, den Hof, das vertraute Dorf, seine gesamte Welt. Sein Vater verschwand für Jahre, seine Mutter wurde depressiv. Das war ein solches Trauma, dass er einfach diesen Teil seiner Biografie abgeschnitten hat. Deswegen konnte er auch kein Heimweh mehr empfinden. Für ihn gab es kein inneres Bedürfnis, sich weiter mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Die erste stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann.
Die erste stellvertretende Regierungssprecherin Christiane Hoffmann. © Ekko von Schwichow

Hat er jemals erwähnt, dass er den Verlust als Unrecht empfand?
Nein, das Thema gab es von anderen Mitgliedern der Familie schon, aber mein Vater war in keiner Weise irgendwie revisionistisch. Er ging auch nicht zu den Vertriebenentreffen. Er hat immer in erster Linie das Unrecht gesehen, das Deutsche getan haben. Er hat diesen Verlust seiner Kindheit, seines Erbes, seiner Familiengeschichte als gegeben hingenommen.

Sie schildern eindrucksvoll, dass die Menschen, die nach 1945 nach Rosenthal kamen, dort auch nicht heimisch wurden.
Das ist in Deutschland oft gar nicht so im Blickfeld: Ein großer Teil der Polen wurde zwangsumgesiedelt in die Gebiete, aus denen die Deutschen geflohen waren oder vertrieben wurden. Diese Menschen hatten aber ebenso ihre Heimat verloren, die ja nun nicht mehr in Polen lag, sie hatten ebenso Familienmitglieder verloren. Und sie lebten noch lange in der Angst, dass irgendetwas wieder rückgängig gemacht und sie erneut vertrieben werden könnten.

Christiane Hoffmann: " Ich habe eine starke, emotionale Beziehung zu diesem Ort"

Das Schicksal Ihres Vaters ist ein Massenschicksal, rund 14 Millionen Deutsche flohen damals oder wurden vertrieben.
Diese Zahlen sind in der Forschung umstritten, aber 14 Millionen ist eine mittlere Dimension, die relativ akzeptiert ist. Erstaunlich, dass dies in der Bundesrepublik sehr lange nicht größer thematisiert worden ist.

Sie schreiben an den Vater gerichtet: "Ich bin krank von dem Heimweh, das Du nie hattest!". Haben Sie wirklich Heimweh empfunden nach einem Ort, an dem Sie nie gelebt haben?
Sagen wir es so: Ich habe eine starke, emotionale Beziehung zu diesem Ort. Das schlesische Dorf Rosenthal war die verlorene Heimat aus der Kindheit, ich habe ja auch den Schmerz meiner Großeltern gespürt. Meine Familie war dort über Jahrhunderte ansässig. Das bedeutet aber nicht, dass ich selbst in diesem Dorf leben möchte.

Sie fahren im Buch mit mehreren älter gewordenen Ex-Rosenthalern dorthin. Es gibt Kaffee und Kuchen. Die Alten schlendern ein bisschen verloren durch das Dorf ihrer Kindheit, Häuser stehen leer und wären für wenig Geld zu erwerben. Aber natürlich kauft niemand wieder ein Haus dort.
Daran wird auch klar, dass Heimat nicht nur Häuser sind oder ein geografischer Ort. Es ging um das Leben, das sie verloren hatten.

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"Ich habe eine große Skepsis gegenüber der EU wahrgenommen"

Sie bezeichnen Ihre Suche auch als Sucht. Sind Sie jetzt durch das Schreiben des Buches kuriert?
Ich werde weiterhin nach Polen und nach Rosenthal/Rozyna fahren, glaube ich, aber vielleicht ist dieses Buch schon eine Art Abschluss. Jedenfalls schaue ich inzwischen versöhnter und milder auf das Thema.

Ihre 550 Kilometer lange Wanderung durch Polen und Tschechien bietet ein nicht gerade hoffnungsfrohes Stimmungsbild des jetzigen Europas.
Ich habe einerseits eine enorme Gastfreundschaft und Offenheit erlebt. Die Menschen, denen ich begegnet bin, haben verstanden und akzeptiert, dass ich da auf den Spuren meines Vaters in der Vergangenheit rumwühle. Andererseits habe ich auch eine große Skepsis gegenüber der EU wahrgenommen, zum Teil auch in der jungen Generation. Gerade in Polen hatte ich oft das Gefühl, dass die Anti-EU-Propaganda der rechtspopulistischen Regierung großen Schaden anrichtet.

Sie schreiben: "Im Osten Europas tobt ein Geschichtskrieg, ein Krieg des Gedenkens." Das ist vielen hier im Westen nicht so bewusst.
In allen diesen Ländern, ob Polen, Russland oder Ukraine wird die Geschichte für die Tagespolitik instrumentalisiert, um Ressentiments zu wecken, um etwas für die Gegenwart einzufordern. Russland beispielsweise fordert von Polen Dankbarkeit für die Befreiung von Nazideutschland, Dankbarkeit für die riesigen Opfer, die sie erbracht haben.

 

Sie fragen Ihre Polnischlehrerin, was sie von den Deutschen fordert, und sie sagt - nach einem Tag Bedenkzeit - Demut.
Sie ist eine liberale Intellektuelle, die überhaupt nicht mit der gegenwärtigen polnischen Regierung sympathisiert. Aber so, wie ich sie verstehe, meint sie, dass die Deutschen, die den Polen im Zweiten Weltkrieg so viel angetan haben, jetzt in der EU wieder eine Großmacht sind. Und sie erlebt häufig, dass Deutsche auf Polen herabblicken. Sie erlebt das als jemand, der zwei abgeschlossene Studiengänge vorzuweisen hat. Aber in Berlin hält man sie, wenn sie sagt, sie komme aus Polen, für eine Putzfrau.

Sie beschreiben auf Ihrer Wanderung auch die renovierten tschechischen und polnischen Städte, die natürlich nicht mehr so aussehen wie 1989. Vieles wurde gefördert von der Europäischen Union. Das hat die Begeisterung für die EU dennoch nicht erhöht?
Das ist ein widersprüchliches und auch ein bisschen schizophrenes Verhältnis. Es ist ja bekannt, dass in Umfragen eine große Mehrheit der Polen in der EU sein will, aber gleichzeitig möchte man für die Hilfen nicht dankbar sein müssen. Das Gefühl ist eher, dass sie das verdient haben. Polen ist aber auch kein Almosenempfänger, Polen hat - mit Hilfe der EU, aber auch aus eigener Kraft - eine enorme wirtschaftliche Entwicklung genommen.

Sie besuchen die Heimatmuseen am Wegesrand. Manche beginnen bei den Neandertalern und enden 1945 - ohne Erwähnung der Vertreibung der Deutschen. Andere beginnen mit ihrer Geschichte erst nach der Vertreibung. Niemand erzählt die ganze Geschichte.
Das, was 1945 passiert ist, ist immer noch das stärkste Tabu. Auch alles, was mit dem Holocaust zusammenhängt, ist schwieriges Terrain und wird viel stärker tabuisiert, als dies in Deutschland der Fall ist. Aber ich bin in Tschechien in Ústí nad Labem, dem früheren Aussig, auf ein Museum gestoßen, das sich explizit zum Ziel gesetzt hat, die Geschichte der Deutschen in den böhmischen Ländern zu erzählen. Das finde ich mutig und toll.

Sie sichern sich in Ihrem Essay permanent ab, wenn Sie schreiben, man könne nicht über Rosenthal schreiben, ohne das 180 Kilometer entfernte Auschwitz zu erwähnen.
Es ist meine Überzeugung, dass beides zusammengehört. Aber es war viele Jahre lang fast gar nicht möglich, auch über das zu schreiben, was Deutsche erlitten haben. Das wurde sofort als eine Relativierung der deutschen Schuld interpretiert. Das ist selbstverständlich in keiner Weise die Intention meines Buches.

Wann haben Sie eigentlich das Angebot bekommen, stellvertretende Regierungssprecherin zu werden?
Mitte Dezember an einem Freitag. Und dann hatte ich bis zum Montag Zeit, mir das zu überlegen. Sehr kurzfristig.

Wie haben Sie die Entscheidung abgewogen?
Ich möchte, dass diese Ampelregierung erfolgreich ist. Und nun wurde ich gefragt, ob ich dabei aktiv mitwirken möchte. Ich habe drei Jahrzehnte lang Politik begleitet, analysiert und auch kritisiert. Ich finde es spannend mitzuhandeln und sich auch der Kritik zu stellen.

Haben Sie keine Sorge, dass der neue Job Ihre literarische Sprache verhunzen könnte?
Nein, das kann ich trennen. Ich hoffe, dass ich weiter literarisch schreiben werde. Aber ich habe die Sorge, dass ich mir angewöhnen könnte, offiziell gewissermaßen hermetisch zu sprechen. In der Bundespressekonferenz muss ich das zu einem gewissen Grad tun. Aber mein Ziel ist es, dort erklärend zu sprechen. Ich finde es zentral in einer Demokratie, dass die Regierung Politik erklärt, und transparent macht, warum sie zu einer Entscheidung kommt. Darin sehe ich meine Aufgabe.


Christiane Hoffmann stellt ihr Buch "Alles, was wir nicht erinnern - zu Fuß auf dem Fluchtweg meines Vaters" (C.H. Beck, 276 Seiten, 22 Euro) am 7. März um 20 Uhr im Literaturhaus vor. Die Lesung wird auch gestreamt, Karten unter Telefon 01806/700733 und literaturhaus-muenchen.de

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