Interview

Zeit-Expertin Christiane Stenger: Am Anfang war der Zeitschock

Christiane Stenger hat ein Buch über das Phänomen Zeit geschrieben. Es geht nicht um Selbstoptimierung, sondern vielmehr darum, uns vom Zeitdruck zu befreien und mehr Zeit für gesellschaftlich Relevantes zu haben.
Adrian Prechtel
Adrian Prechtel
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Christiane Stenger erklärt, wie die Zeitauffassung unseres gehirns unsere Zukunft formt.
Christiane Stenger erklärt, wie die Zeitauffassung unseres gehirns unsere Zukunft formt. © Campus

Ihr Buchtitel 2014 überraschte nicht bei einer Junior-Gedächtnisweltmeisterin: "Lassen Sie Ihr Hirn nicht unbeaufsichtigt! Gebrauchsanweisung für Ihren Kopf". Dazu passte dann auch "Wer lernen will, muss fühlen". Und jetzt? "Lassen Sie Ihre Zeit nicht unbeaufsichtigt". Für Christiane Stenger waren zwei Worte tabu in ihrem neuen Buch: "Corona" und "Klimakatastrophe", weil sie so überstrapaziert sind. Aber dann - erzählt sie lachend - kommen sie natürlich doch vor. Weil Corona für uns alle auch ein riesiges Zeitgefühl-Experiment war und die Klimakatastrophe eben doch etwas mit unserem Zeitmanagement zu tun hat.

Die 1987 geborene Münchnerin Christiane Stengerist Autorin, Schauspielerin, TV-Moderatorin, Gedächtnistrainerin. Sie hat Politikwissenschaft studiert und war mehrfache Junioren-Gedächtnisweltmeisterin.

AZ: Frau Stenger, Ihr Buch hält relativ zu Beginn gleich einen Schock parat: die "Deathclock". Kurz gesagt, man füllt einen Fragebogen mit persönlichen Angaben aus und bekommt sein Sterbedatum berechnet.
CHRISTIANE STENGER: Ich habe es gemacht, würde es aber nicht zur Nachahmung empfehlen, weil es ein großes Unbehagen auslösen kann. Doch was man mit so einem Gedankenspiel klar machen kann, ist die Frage: Wenn mir rein statistisch noch soundso viel Zeit bleibt, was will ich eigentlich in meinem Leben tun. Und: Wenn man allein den Parameter von "Ich bin ein eher pessimistischer Typ" zu "eher optimistischer" umstellt, gewinnt man gleich mal viele Jahre. Das sind natürlich Denkanstöße, die mir für dieses Buch wichtig waren.

Aber "Lassen Sie Ihre Zeit nicht unbeaufsichtigt" will ja genau keines dieser Selbstoptimierungsbücher sein, die letztendlich die Stresszahl erhöht. So nach dem Motto: Wie kriege ich noch mehr in meinen ohnehin engen Tag rein.
Genau das Gegenteil: Es geht mir um Zeitautonomie, die man aber nur erreicht, wenn man sich mehr Gelassenheit zulegt gegenüber den Ansprüchen, die die Umwelt an einen stellt.

Es gibt den schönen Satz: "Dem Glücklichen schlägt keine Stunde."
Ja, weil wir - und das ist ja auch eines der Kapitel über die Relativität der Zeit - wenn wir uns in etwas Schönem versenken wirklich das Zeitgefühl verlieren. Und sich diese Zeit zu nehmen, macht glücklich.

Im Buch kommt ein Experiment vor: Probanden, die nur 15 Minuten lang von allen Reizen abgeschirmt wurden - wie in einem Wartezimmer ohne Handy, Zeitungen, Bilder etc.. - zogen Schmerz dem Nichts vor.
Das war wirklich eine wissenschaftliche Studie - mit Elektroschockern. Die Probanden wussten zuvor, dass sie schmerzhaft sind und wären zuvor sogar noch bereit gewesen, Geld zu zahlen, um nicht noch einmal einen Schlag zu bekommen. Aber dann begannen sie - innerhalb von 15 Minuten der Leere -, sich freiwillig Schmerz zuzufügen. Das zeigt, wie schwer es unser reizüberflutetes Gehirn heutzutage aushält, auf sich selbst zurückgeworfen zu sein. Wir haben ja jede Form der Langeweile oder Reizlosigkeit aus unserem Leben eliminiert, man kann sich immer bespielen lassen - gerade auch durch das Handy und das Internet.

Viele Seiten des Buchs beschäftigen sich mit der Frage, was unser Zeitgefühl beschleunigt und verlangsamt. Und weil schöne Dinge einem das Gefühl geben, sie vergehen zu schnell, ist das doch eigentlich schade.
Nein, nicht wirklich, weil es zwar beim Erleben so ist, aber nicht beim Erinnern. Man kennt das besonders stark noch aus Kindheitstagen: Wenn man im Zirkus war oder bei einem Zauberer oder ein Buch gelesen hat, war man traurig, wenn's schon "so schnell" wieder vorbei war, weil die Zeit gerast ist. Da unser Gehirn Zeit ja nur konstruiert, gibt es dann eben das Paradox, dass man in der Erinnerung eine Reihe von schönen Erlebnissen wiederum als länger empfindet.

Sie widmen natürlich auch ein paar Abschnitte der schwer vorstellbaren "Relativität" von Zeit, die Einstein errechnet hat und beschreibt.
Wir empfinden da eher, wie schon Heraklit: Zeit läuft linear und "wir steigen niemals in denselben Fluss", auch wenn Einstein eher dem vorsokratischen Parmenides Recht gegeben würde, weil Zeit auch etwas ist, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als etwas Gleichzeitiges vorstellt. Das war mir als ein physikalischer, faszinierender Aspekt wichtig, auch wenn es natürlich unser konkretes Leben nicht betrifft.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Corona war sicher ein kollektives Zeitempfindungs-Experiment

Wie hat Corona unser Zeitempfinden verändert?
Für Ärzte und Krankenschwestern oder Familien im Homeschooling und in einer kleinen Wohnung anders als andere. Aber interessant ist, dass sich die Coronazeit ja rückblickend wie eine zeitliche Suppe anfühlt, weil man gar nicht mehr sagen kann, wann genau was war, die im Erleben irgendwie langsam war, aber gleichzeitig kann man nicht genau sagen, ob es wirklich schon oder erst zwei Jahre sind, die sich auch wie vier Jahre anfühlen können - ein Paradox. Corona war sicher ein kollektives Zeitempfindungs-Experiment.

Heute Abend sind Sie Teil eines Demokratieprojekts und geben ein kostenloses "digitales Demokratiegedächtnistraining". Und was hat das mit Zeit zu tun?
Nur, dass man sich dafür ein bisschen Zeit nehmen muss. In meinem Buch plädiere ich ja auch dafür, sich mehr Zeit zu schaffen für gesellschaftlich Relevantes. Und ich bin heute beim digitalen Onlineseminar als Gedächtnistrainerin eingesetzt und zeige, wie man sich Grundrechte, Bundeskanzler und Bundeskanzlerinnen und Staatsoberhäupter besser merken kann - sozusagen als Grundwissen. Adrian Prechtel

Buch: Christiane Stenger: "Lassen Sie Ihre Zeit nicht unbeaufsichtigt" (Campus, 262 Seiten, 18,95 Euro)
Do, 19-20.30 Uhr: kostenloses "digitales Demokratiegedächtnistraining" für alle im Rahmen des Projekts "AWO l(i)ebt Demokratie". Infos unter: eveeno.com/demokratiegedaechtnistraining

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.