Julia Schochs neuer Roman: Stochern im inneren Nebel
München - Plötzlich enthüllte verwandtschaftliche Beziehungen sorgen in Literatur und Film seit jeher für komplizierte Verwicklungen und Verstrickungen. In Julia Schochs neuem Roman "Das Vorkommnis" begegnet dem literarischen Alter Ego der Autorin bei einer Lesung eine Frau, die sich als ihre Halbschwester vorstellt.
Schochs Romane: Erinnerungen an die DDR
In der Familie der Ich-Erzählerin war durchaus bekannt, dass der Vater vor der Ehe mit der Mutter schon ein Kind gezeugt hat. Das Mädchen wurde jedoch wenige Monate nach der Geburt zur Adoption freigegeben, und damit war das Thema für alle Beteiligten erst einmal erledigt.
Julia Schoch hat ein Faible für Figuren, die sich im eigenen Leben ein wenig verloren fühlen. Die Schriftstellerin und Übersetzerin ist in der Nähe von Berlin geboren und lebt in Potsdam. In ihren Romanen und Kurztexten ist das Leben und Aufwachsen in der DDR immer wieder ein wichtiger Bezugspunkt.
Ihre Figuren haben oft den Zusammenbruch der DDR erlebt und stolpern zwischen zwei politischen Systemen etwas orientierungslos durch die Welt. In ihrem letzten Roman "Schöne Seelen und Komplizen" erzählt sie von ehemaligen Schülern eines DDR-Elitegymnasiums, die 30 Jahre später ihre Erlebnisse rund um den Mauerfall rekapitulieren.
Hinterfragen des Lebens als Leitthema
Auch im aktuellen Buch "Das Vorkommnis" prägt das Aufwachsen in der DDR und der Umgang mit Kindern dort Stimmung und Persönlichkeit der Ich-Erzählerin, auch wenn es nicht explizit Thema des Romans ist. Das Auftauchen der Halbschwester rührt in ihrem Leben einige alte Themen auf. Nach der Begegnung befindet sie sich in einer Art Schockzustand.
Zwar macht sie mit ihrem Leben weiter wie bisher und tritt eine lange geplante, berufliche Amerikareise an. Doch nach und nach merkt sie immer deutlicher, wie sie alles, was bisher selbstverständlich war, in Frage zu stellen beginnt. Die Beziehung zu ihrem Mann war für sie bis dahin immer eine ganz große Liebesgeschichte, jetzt erscheint sie ihr immer mehr als Trugbild. Sie rechnet fest damit, dass auch er ein dunkles Geheimnis hat. Sie vergiftet sich das Leben und die Liebe mit der Erwartung, dass irgendwann seine Enthüllung kommt.
Melancholische Protagonistin im Gedankenstrudel
",Nicht das plötzlich aufgetauchte Kind ist der Schock, sondern das jahrelange Verheimlichen', lese ich in einem Zeitschriftenartikel, der von unerwartet offenbarten Halbgeschwistern handelt. Menschen, die solchen Offenbarungen ausgesetzt sind, sehen auf einmal überall Anzeichen von Verrat, Verstellung, mindestens aber Verschwiegenes."
So liest es die Ich-Erzählerin im Roman. Der Leser begegnet in Schochs Roman einer zutiefst melancholischen Frau, die in Gedankenspiralen feststeckt und die jeder Blick in die eigene Familiengeschichte weiter verunsichert. Alles, was von da an im Außen geschieht, erlebt sie wie durch einen Nebel.
Interessant ist hier nicht, was wirklich passiert, sondern welche Gedanken sich die Erzählerin darüber macht. Dadurch, dass ein Großteil der Handlung in ihrem Kopf durchgespielt wird, bekommt der Roman stellenweise den Charakter eines Gedankenexperiments.
Julia Schochs "Das Vorkommnis": Auftakt einer Triologie
Als Leser taucht man ein in die schlaglichthaft, in eingängigen Bildern erzählte Familiengeschichte der Protagonistin, vermisst jedoch spätestens ab der Mitte des Buches eine Art von Entwicklung oder Spannung. Man fühlt sich selbst erstarrt in ihrer Unfähigkeit, einen aktiven Umgang mit der Situation zu finden. "Das Vorkommnis" ist der Auftakt zu einer geplanten Trilogie mit dem Titel "Biographie einer Frau". Vielleicht kommen im nächsten Band dann Entwicklung und Dynamik ins Spiel.
Julia Schoch: "Das Vorkommnis" (dtv, 192 Seiten, 20 Euro, E-Book 16,99 Euro).
Lesung im Literaturhaus: Dienstag, 8. März, 20 Uhr
Moderation: Antje Weber
Eintritt: 15 / 10 Euro, Streamticket: 5 Euro
- Themen:
- Kultur