Außenminister Walther Rathenau: Der Feind steht rechts
Den Personenschutz hatte er weggeschickt – und das trotz unzähliger Morddrohungen und des kursierenden Reims "Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau!".
Walther Rathenau wurde am 24. Juni 1922 ermordet
Am heutigen Freitag vor 100 Jahren ließ sich der deutsche Außenminister im offenen Wagen von seiner Villa im Berliner Stadtteil Grunewald ins Auswärtige Amt fahren. Gegen 10.45 Uhr überholte ein Mercedes das Ministerauto. Ein Mann feuerte mit einer Maschinenpistole neun Schüsse auf ihn ab. Rathenau war wenige Minuten später tot.
Bei der Sondersitzung des Reichstags am nächsten Tag zitierte der dem Zentrum angehörende Reichskanzler Joseph Wirth eine Formel der Sozialdemokraten: "Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: dieser Feind steht rechts!"
Weimarer Republik von politischen Morden erschüttert
Seit ihrer Ausrufung nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg wurde die fragile Weimarer Republik von politischen Morden erschüttert. Zwischen 1918 und 1922 starben 400 Menschen, darunter Rosa Luxemburg, der Zentrums-Mann und Unterzeichner des Waffenstillstands, Matthias Erzberger, sowie der bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner.
Nach der Ermordung Rathenaus durch die rechtsextreme Organisation Consul rückten das Zentrum, die SPD und die Liberalen zunächst enger zusammen. Zu einer Stabilisierung führte dies nicht: Im November 1923 putschte Hitler in München, zehn Jahre später gelangte er mit Hilfe williger Konservativer an die Macht.
Noch heute ist Frage nach Stabilität der Demokratie aktuell
Die Frage nach der Stabilität der Demokratie und der Gefahr von rechts ist auch heute aktuell. Mehrere Biografien erzählen Rathenaus Leben, auch zum Jahrestag des Mords kamen wieder mehrere Sachbücher heraus. Unter den Neuerscheinungen ist auch ein Roman des 1957 in Braunschweig geborenen Kulturjournalisten Stephan Abarbanell, der 20 Jahre lang als Kulturchef des rbb arbeitete.
"10 Uhr 50, Grunewald": Ein Roman von Stephan Abarbanell
Historische Romane gelten als Unterhaltung, und die Psychologisierung von Personen der Geschichte wird schnell klebrig. Diese Skepsis verfliegt bei der Lektüre von Abarbanells "10 Uhr 50, Grunewald" rasch. Der Blick ins Innere ist hilfreich, um die schillernde Persönlichkeit Rathenaus einem breiteren Publikum näher zu bringen. Denn der Reichsaußenminister war als deutscher Jude mit wahrscheinlich unausgelebten homosexuellen Neigungen eine widersprüchliche und angreifbare Figur.
Abarbanell hat zur Verdeutlichung einen jungen Fotografen erfunden, der nach Palästina auswandern will. Rathenau fühlte sich von ihm erotisch angezogen, wobei die Beziehung platonisch bleibt. Das ist so subtil wie diskret beschrieben. Die meisten anderen Figuren, wie etwa Rathenaus Mutter, die ihrem Sohn von der Übernahme eines politischen Amts abrät, sind historisch und zuverlässig recherchiert.
Gerhart Hauptmann wird von Stephan Abarbanell konsequent falsch geschrieben
Als Einziges stört der konsequent falsch geschriebene Vorname von Gerhart Hauptmann – ein Indiz, dass dieser naturalistische Dramatiker langsam vergessen wird.
Über Rathenaus Leben gibt es viel zu erzählen: Sein Vater erwarb das Patent von Edisons Glühbirne für Deutschland und war Gründer der AEG. Die jüdische Herkunft verwehrte seinem Sohn, preußischer Offizier zu werden. Walther Rathenau hatte literarische Neigungen, verfasste nach rechts anschlussfähige kulturkritische Schriften und ließ sich von Edvard Munch malen, obwohl er moderne Kunst weniger schätzte.
Im Ersten Weltkrieg organisierte Rathenau den Rohstoffnachschub für die deutsche Rüstungsindustrie durch die Ausbeutung des besetzten Belgien. Zeitweise sympathisierte er mit einem "Siegfrieden". Nach der Niederlage versuchte Rathenau, die harten Reparationsbedingungen durch enge wirtschaftliche Kooperation mit den Siegermächten Frankreich und England aufzuweichen. Das machte ihn bei den Rechten als "Erfüllungspolitiker" verdächtig.
Rathenaus Coup aus Außenminister war der Vertrag von Rapallo mit dem wie Deutschland international isolierten Sowjetrussland – das weckte bei den Rechtsextremen antisemitische wie antikommunistische Reflexe.
Dass man nach der Lektüre von Abarbanells Roman womöglich das Bedürfnis verspürt, zur weiteren Klärung die Rathenau-Biografien von Wolfgang Brenner oder Shulamit Volkov zu lesen, dürfte der Autor als Kulturjournalist eher als Lob verstehen.
Stephan Abarbanell: "10 Uhr 50, Grunewald" (Blessing, 256 Seiten, 22 Euro). Der Autor stellt sein Buch am 6. Juli um 19 Uhr im Café Luitpold vor. Anmeldung unter cafe-luitpold.de
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