Tanja Maljartschuk: "Unser Platz ist in Mitteleuropa"
Im kommenden Herbst widmet sich das Literaturfest München der Literatur und der Kultur der Ukraine. Im Mittelpunkt wird der Dialog zwischen deutschen und mittelosteuropäischen Autoren stehen, die ukrainische Autorin Tanja Maljartschuk kuratiert das zentrale Festivalprogramm "Forum".
Das Literaturfest vom 16. November bis zum 4. Dezember steht unter dem Motto "frei sein - Mitteleuropa neu erzählen". Erwartet werden nach Festivalangaben etwa die Literatur-Nobelpreisträgerinnen Herta Müller und Olga Tokarczuk und Schriftstellerinnen und Schrifsteller wie Andrej Kurkow, Robert Menasse, Sofi Oksanen oder Lea Ypi.
Maljartschuk: Unfassbar, dass der Westen Putins Angriff nicht kommen sah
AZ: Frau Maljartschuk, waren Sie überrascht als Putin am 24. Februar die Ukraine angriff?
TANJA MALJARTSCHUK: Nein, ich hatte das auch schon zwei Wochen vorher in einer Talkshow gesagt. Wofür hat er sonst 150.000 Soldaten an der Grenze versammelt? Es ist für mich unfassbar, dass so viele im Westen daran geglaubt haben, Putin hätte geblufft. Es ist auch unfassbar, dass er wenige Monate nach der Annexion der Krim schon wieder in Wien hofiert wurde. Aber es war, wie es war. Nun stehen wir vor einer enormen Herausforderung. Seit dem 24. Februar ist die Welt, die wir kannten, an die wir uns gewöhnt hatten, zerstört worden. Und es ist extrem wichtig, neue Narrative für das 20. Jahrhundert zu finden. Der Westen hat es sich sehr einfach gemacht, alle Länder hinter dem Eisernen Vorhang als russisches Einflussgebiet zu bezeichnen. Milan Kundera hat in seinem Essay "Die Tragödie Mitteleuropas" 1983 unglaublich klug und jetzt wieder aktuell gefragt, was mit den kleinen Nationen zwischen Deutschland und Russland geschehen soll.
Aber die Ukraine ist keine kleine Nation.
Es geht nicht um die Größe. Eine kleine Nation definiert Kundera als eine, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt infrage gestellt werden kann. Diese kleinen Nationen können verschwinden - und sie wissen das. Polen und Tschechen haben schon ihre Freiheit erkämpft, sind jetzt aber auch wieder besorgt und bedroht. Die Ukraine will sich gerade ihren Weg zurück nach Mitteleuropa erobern, dort, wo sie auch hingehört.
"Auch die Kulturfront ist wichtig"
Sie haben seit Kriegsbeginn aufgehört, an Ihrem neuen Romanprojekt zu arbeiten.
Ich bin nur Schriftstellerin, meine letzte Veröffentlichung waren Liebesgedichte, aber jetzt bin ich gezwungen, eine Soldatin dieses Krieges zu werden. Ich habe keine andere Wahl, auch die Kulturfront ist wichtig. Aufklärungsarbeit ist wichtig und natürlich, Hilfe für ukrainische Künstler zu organisieren. Ich helfe, wo ich nur kann, sammle Geld, organisiere Unterkünfte. Wenn ich über die Zukunft nachdenke, habe ich solch schreckliche Bilder vor Augen, da bleibe ich lieber im Hier und Jetzt. Ich mache, was ich kann, weine, breche zusammen, was schon ein paar Mal geschehen ist, und stehe wieder auf. Krieg enthumanisiert und entindividualisiert - wir sind nichts im Vergleich gegen die Maschinerie der Gewalt. Und dennoch sind wir diejenigen, die diese Gewalt stoppen müssen.
Ihre Eltern leben noch in der Westukraine, waren Sie schon einmal wieder dort?
Nein, ich habe noch keine Zeit gehabt, weil ich fast jeden Tag eine Veranstaltung habe. Mein Cousin ist im Krieg und manchmal haben wir tagelang keinen Kontakt zu ihm. Ich fahre im Juli hin.
"Dieser Krieg geht die Deutschen an"
Haben Sie Sorge, dass die Solidarität und die Aufmerksamkeit im Westen bröckeln könnten?
Nein, das glaube ich nicht. Natürlich gibt es eine gewisse Müdigkeit, die sehe ich auch im deutschsprachigen Raum. Gleichermaßen wissen wir aber auch, dass man nicht müde werden darf. Dieser Krieg geht die Deutschen an. Und langsam kommt man aber auch hier zur Überzeugung, dass man Putin nicht besiegen wird ohne Opfer zu bringen. In der Ukraine ist man sehr enttäuscht, wie Deutschland sich bislang verhält. Natürlich nicht über die Hilfe der Bevölkerung, aber über das Verhalten der Politiker. Die Waffenlieferungen sind bislang viel zu zögerlich, es werden immer neue Ausreden erfunden, wenig zu tun. In der Ukraine versteht man diese Haltung nicht, vor allem, weil Deutschland durch die Verbrechen des Zweiten Weltkriegs auch eine große Verantwortung gegenüber der Ukraine hat.
Die Kenntnis im Westen über die eigenständige ukrainische Geschichte war bis vor wenigen Wochen sehr dürftig.
Das ist immer noch so. Es gibt in Deutschland nur eine Professur für ukrainische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Und das ist auch nur eine halbe Stelle. Vergleichen Sie das mal mit den vielen Professoren für russische Kultur oder Slawistik, die dann in Talkshows über die Ukraine sprechen, von der sie keine Ahnung haben. Ich denke daher, dass wir auf dem Festival auch Geschichtspanels anbieten müssen.
Ukrainer als Nazis? "Komplett vom Kreml verdreht"
Der ukrainische Nationalist Stepan Bandera ist 1959 vom russischen Geheimdienst in München erschossen worden und liegt hier begraben. Er ist als Partisanenführer aber auch Nazi-Kollaborateur eine auch in der Ukraine umstrittene Figur, die Putin aber benutzt, um den Ukrainern Faschismus zu unterstellen.
In der Ukraine gibt es viele Themen, bei denen wir noch nicht die Möglichkeit hatten, sie zu verarbeiten, weil es nie die Ruhe dazu gab. Wir sind ja schon seit Jahren im Krieg mit Russland und seiner Propaganda, die das Thema bis zum Absurden instrumentalisiert hat. Eine Verarbeitung der Geschichte braucht Zeit und eben Ruhe. Auch die Deutschen haben viel Zeit gebraucht, um ihre Taten zu gestehen, obwohl es relativ einfach war — sie waren Täter. In der Ukraine ist die Geschichte des zweiten Weltkrieges viel komplexer und extrem tragisch. Heute wissen nur wenige, was Anhänger von Bandera getan haben, auch der Zivilbevölkerung gegenüber, aber die meisten wissen, dass sie gegen die Rote Armee bis in die Fünfzigerjahre hinein für eine eigenständige Ukraine gekämpft haben. Deshalb werden sie von manchen als Helden verehrt. Das heißt aber nicht, dass die heutigen Ukrainer Nazis sind, das ist doch komplett vom Kreml verdreht, als eine Begründung, gegen die Ukraine Krieg führen zu können. Genauso verdreht sehe ich solche Gespräche über Bandera im Kontext des Krieges im Westen. Als hätten die Ukrainer die Unterstützung nicht verdient, weil sie sich mit ihrer Geschichte zu wenig auseinandergesetzt haben.
Sie leben seit elf Jahren in Wien. Mit welchen Vorurteilen wurden Sie konfrontiert?
Die häufigste Frage war, ob die ukrainische und die russische Sprache sich tatsächlich unterscheiden. An der zweiten Stelle war die Frage, ob die Ukraine total gespalten und zur Hälfte prorussisch sei. Man hat dieses Land immer nur durch die russische Perspektive wahrgenommen. Ist es durch diesen brutalen Krieg nicht höchste Zeit dafür, mit solchen Stereotypen aufzuhören und die Ukraine im mitteleuropäischen Kontext anzusehen? Ihr Platz ist dort. Ich möchte die Ukraine als Teil dieser Kultur zeigen. Leider weiß ich nicht, ob alle Autoren, die ich gerne hätte, kommen können. Ich kann mir zum Beispiel kein Festival mit dem Schwerpunkt Ukraine ohne den ukrainischen Autor Serhij Zhadan vorstellen, aber er will in Charkiw bleiben. Auf meine Anfrage hat er einen Satz zurückgeschrieben: Wenn der Krieg vorbei ist, komme ich sehr gerne, danke für die Einladung.
Inwieweit sind Sie in der Schule noch russisch erzogen worden?
Ich bin in der Westukraine geboren und hatte noch Russischunterricht. Schreiben kann ich auf Russisch nur mit Fehlern, sprechen mit großer Mühe.
"Ich bin kein Teil der russischen Kultur, ich bin ein Opfer der russischen Kultur"
Aber Sie können die russische Literatur im Original lesen.
Will ich aber nicht. Ich denke, viele Deutsche kennen die russischen Klassiker besser als ich. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass die Ukrainer alle mit russischer Literatur aufgewachsen sind. Die literarischen Götter meiner Jugend waren Kafka, Bachmann, Cortázar, Márquez und Borges. Ich bin kein Teil der russischen Kultur, ich bin ein Opfer der russischen Kultur.
Was halten Sie von einem Boykott russischer Kultur im Westen?
Man wird die "große" russische Kultur irgendwann dekolonialisieren müssen. Es ist die Kultur eines Imperiums, mit vielen unterdrückten Völkern an der Peripherie. Die Russen selbst müssen das machen, wenn sie irgendwann dazu bereit sein werden, ein demokratisches Land aufzubauen. Der Westen muss sich irgendwann auch anstrengen und die russische Brille absetzen. Im Moment gibt es keinen Boykott, man ist eher bereit die ukrainischen Künstler, die das fordern, als Rassisten zu betrachten. Oder man sagt, ah, die Wut ist nachvollziehbar, aber … Und gleichzeitig hängt in der okkupierten Stadt Kherson ein großes Transparent, das ein Portrait von Puschkin zeigt und darauf verweist, das er hier einmal auf der Durchreise gewesen sei. Daher ist Kherson eine Stadt mit russischer Geschichte. Verstehen Sie? Das Imperium setzt Kultur als Waffe ein, Punkt. Es werden die Leichen von Puschkin oder Dostojevski benutzt, um sich mehr Gewicht zuzulegen und die Zerstörung eines souveränen Staates zu rechtfertigen. Und im Westen spricht man auch lieber über den Boykott als über die vergewaltigten ukrainischen Frauen oder darüber, wie viel ukrainische Künstler bereits gestorben sind. Es ist eine Art Verdrängungspiel. Für mich persönlich gilt Folgendes: Ich trete nicht mit russischen Autoren auf, egal wie negativ ihre Haltung gegenüber Putin ist. Ich habe nichts mit ihnen zu besprechen, und sie spielen auch in Russland keine Rolle. In Russland spielt Kultur ohnehin keine Rolle mehr. In Deutschland sehe ich als sinnvoll einen direkten Dialog mit den Deutschen zu führen.