Befriedung oder Blockade? 3700 Bürgerbegehren in 30 Jahren

Vor 30 Jahren gaben sich die Bayern selbst mehr Mitspracherechte – indem sie Bürgerbegehren und Bürgerentscheide einführten. Wie ist die Bilanz heute - und wie geht es weiter?
Christoph Trost und Marco Hadem, dpa |
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Das Volk darf in Bayern in vielen Fällen mitbestimmen - auf Landes- und auch auf kommunaler Ebene. (Archivbild)
Das Volk darf in Bayern in vielen Fällen mitbestimmen - auf Landes- und auch auf kommunaler Ebene. (Archivbild) © picture alliance / dpa
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München

Es war eine bittere Niederlage für die damals allein regierende CSU, die noch tausendfache Folgen haben sollte: Vor 30 Jahren, am 1. Oktober 1995, stimmten die bayerischen Bürgerinnen und Bürger in einem landesweiten Volksentscheid für die Einführung kommunaler Bürgerbegehren und Bürgerentscheide. Seit dem 1. November 1995 gibt es das Instrument - das inzwischen einige tausendmal angewendet wurde: Mehr als 3700 Bürgerbegehren zählte der Verein "Mehr Demokratie e.V." seither. Und mehr als 2300 Mal gab es demnach einen Bürgerentscheid. Manches Projekt wurde seither gestoppt - Bürgerentscheide gelten aber auch als befriedend.

Bürgerbegehren und Bürgerentscheide - was heißt das eigentlich?

Mit einem Bürgerbegehren können Bürger in einer Gemeinde oder in einem Landkreis einen Bürgerentscheid zu einem Thema vor Ort beantragen. Dafür ist - je nach Gemeinde- oder Landkreisgröße - eine bestimmte Zahl von Unterschriften nötig. Wird diese Hürde genommen und ist das Bürgerbegehren zulässig, kommt es zu einem Bürgerentscheid. Dabei entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen - es ist aber, wieder je nach Größe der Kommune, eine bestimmte Mindestbeteiligung (Quorum) nötig. Ein Bürgerentscheid wirkt rechtlich wie ein Beschluss eines Gemeinderats oder Kreistags. Ein Jahr lang kann dieser grundsätzlich nur durch einen neuen Bürgerentscheid abgeändert werden. Danach bleibt aber auch eine Art politische Bindungswirkung.

Wie kam es dazu, dass das Instrument in Bayern eingeführt wurde?

Tatsächlich finden sich schon in der Bayerischen Verfassung Instrumente direkter Bürgerbeteiligung: Volksbegehren und Volksentscheide. Auf diesem Wege können Bayerns Bürger direkt auf die Landesgesetzgebung Einfluss nehmen - wobei es dafür auch bestimmte Hürden gibt. Etwa eine Mindestzahl an Unterstützern für den Antrag auf ein Volksbegehren und dann eine Mindestzahl an Unterschriften in einem Eintragungszeitraum von zwei Wochen, bevor es tatsächlich zu einem Volksentscheid kommt. Genau auf diesem Wege wurde auch das Instrument der Bürgerbegehren und -entscheide eingeführt.

Wie verliefen damals die Fronten?

Die CSU hatte in ihrem Gegenentwurf damals deutlich höhere Hürden für Bürgerentscheide in Städten, Gemeinden und Landkreisen vorgesehen - scheiterte aber damit. Der damalige CSU-Generalsekretär Bernd Protzner räumte die Niederlage ein: "Die Absichten der Bürgerinitiative werden die Kommunalpolitik enorm erschweren. Sie können den Standort Bayern in erhebliche Bedrängnis bringen", warnte er am Tag danach. Der Initiator der Bürgeraktion, der Allgäuer Thomas Mayer, feierte das Ergebnis dagegen als "Riesenerfolg für die Demokratie": "Jetzt ist Bayern in Sachen Bürgermitbestimmung vorn: vom Schlusslicht zur Lokomotive in Deutschland." 

Die Initiative war auch von SPD, Grünen und FDP unterstützt worden. Die damalige SPD-Landesvorsitzende Renate Schmidt begrüßte das Ergebnis deshalb mit den Worten: "Für manche Regierende mag Politik künftig etwas unbequemer werden, sicherlich wird unsere Demokratie aber lebendiger."

Wie ist die Bilanz nach 30 Jahren?

Der Verein "Mehr Demokratie e.V." hat mitgezählt: Demnach wurden seit Inkrafttreten der Regelungen 1995 genau 3739 Bürgerbegehren gestartet. Mehr als 2300 Mal sei es zu einem Bürgerentscheid gekommen - entweder durch ein vorangegangenes Bürgerbegehren oder auf Initiative von Gemeinde- oder Stadträten - dann spricht man von sogenannten Ratsbegehren. "Aus drei Jahrzehnten Beratungsarbeit zu Bürgerbegehren wissen wir: Die Menschen wollen mitgestalten - und sie tun es verantwortungsvoll", bilanziert die Leiterin des Bereichs Kommunale Demokratie des Vereins, Susanne Socher.

Welche prominenten Bürgerentscheide gab es?

In München beispielsweise wurde per Bürgerentscheid der Bau eines neuen Stadions im Norden der Stadt beschlossen - das ist die heutige Allianz-Arena. In anderen Bürgerentscheiden lehnten die Münchner den Bau von Gebäuden mit mehr als 100 Metern Höhe oder eine dritte Flughafen-Startbahn an. In Erinnerung ist auch noch das Nein zu einer Bewerbung um die Olympischen Winterspiele 2022 - dazu gab es Bürgerentscheide in München, Garmisch-Partenkirchen und den Landkreisen Traunstein und Berchtesgadener Land.

Und welche Bürgerentscheide stehen an?

Mit Spannung erwartet wird am 26. Oktober das Votum der Münchner Bürger - wieder zur Frage einer Olympia-Bewerbung, diesmal um Sommerspiele. Dieser Bürgerentscheid wurde nicht per Bürgerbegehren von Bürgern selbst angestoßen, sondern vom Stadtrat. Denn auch Kommunen können Entscheidungen den Bürgern zur Abstimmung und damit Entscheidung vorlegen - etwa um Streitigkeiten zu befrieden oder um Streit aus dem Weg zu gehen.

Wie geht es in Zukunft weiter?

Auf Initiative von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) gab es in den vergangenen Monaten einen Runden Tisch zu möglichen Reformen von Bürgerbegehren und -entscheiden. Söder hatte beklagt, dass Bürgerentscheide befrieden könnten, aber zunehmend auch als Blockade eingesetzt würden. Ergebnis des Runden Tisches war am Ende freilich, dass die wichtigsten Regeln quasi unangetastet bleiben sollen. Die Planung von Krankenhäusern könnte aber möglicherweise künftig von Bürgerbegehren ausgeschlossen werden.

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