"Befinden uns in einer Notsituation": Bayern hat zu wenige Lehrer

München - Gerade kramen Gerd Nitschke und seine Kollegen fieberhaft in alten Unterlagen, denn in denen liegt ein Funken Hoffnung: Vor zwei Jahren hat man 500 bayerische Grundschullehrer fertig ausgebildet, aber nicht angestellt, weil keine Stellen da waren.
Und deren Kontaktdaten sucht der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) jetzt wieder heraus – wer nicht übernommen wurde, steht nämlich noch fünf Jahre auf einer Warteliste, bis er aus dem System verschwindet. Bevor das geschieht, will man sie von Privatschulen und aus der freien Wirtschaft zurückholen.
In einer Woche fielen 130 Stunden aus – an einer einzigen Schule
„Wenn sie sich jetzt bewerben, haben sie sehr gute Chancen, verbeamtet zu werden“, sagt Nitschke, Vizepräsident des BLLV. Das würde die staatlichen Schulen in Bayern zwar nicht sofort aus der misslichen Lage retten, „aber es wäre schon mal eine große Hilfe“.
Die missliche Lage, um die es geht, ist ein akuter Lehrermangel. „Wir befinden uns in einer Notsituation“, sagt BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. Gerade zwischen Pfingst- und Sommerferien gebe es viele Prüfungen, einige Schulen in Bayern könnten die Aufgaben aber nicht mehr stemmen. Die steigende Zahl an Schülern, vor allem durch geflüchtete Kinder und Jugendliche, erschwere die Situation.
Zwar sei sie „nicht flächendeckend dramatisch“. Es gebe aber „zu viele Schulen, die nicht mehr wüssten, wie sie den Unterrichtsalltag aufrechterhalten sollen“.
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Im vergangenen Schuljahr hätten Lehrer pro Woche durchschnittlich 8,4 Prozent zusätzliche Lehrstunden gegeben, etwa um kranke Kollegen zu vertreten. Schon zum Beginn des Schuljahres sei vom Kultusministerium zu knapp geplant worden, kritisiert der Verband. „Die Schulräte verteilen die Lehrkräfte so, dass die Rechnung statistisch stimmt“, sagt Nitschke. Erkrankungen beispielsweise seien darin aber nicht eingeplant.
Der Verband wolle nicht dramatisieren, sagt Fleischmann, „aber konkrete Situationen beleuchten“. Drei bayerische Schulleiter haben dem BLLV dafür die Unterrichtssituation an ihrer Schule geschildert – an der Mittelschule Sonthofen in Schwaben beispielsweise fielen in nur einer Woche im Mai 130 Unterrichtsstunden aus, davon 76 wegen Krankheit. Für fünf Stunden war eine mobile Reserve – eine ausgebildete Lehrkraft, die bei längerfristigen Vertretungen eingesetzt werden kann – verfügbar.
Eine Klasse musste für einen ganzen Tag zu Hause bleiben. Zwölf Mal wurden Klassen oder Gruppen zusammengelegt.
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An der Geschwister-Scholl-Mittelschule in Röthenbach an der Prignitz fehlten 2016 an jedem Tag mindestens zwei Lehrer, im Durchschnitt etwa vier – bei einer Gesamtzahl von 40 Lehrkräften. Und zwar allein wegen Erkrankungen.
Förderungen, integrative oder inklusive Angebote würden stets als erstes gestrichen. Die Belastung für die übrigen Lehrer steige. Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, Martin Güll, kritisiert eine „gigantische Fehlplanung“ des Ministeriums.
An bayerischen Schulen sind 2015 etwa 1,6 Prozent des Unterrichts ersatzlos ausgefallen, hat das Ministerium berechnet. Diese Zahl kritisiert der BLLV: „Die nicht planmäßig erteilten Stunden mit teils fachfremden Lehrern oder in doppelter Klassenstärke, sind darin nicht enthalten“, sagt Fleischmann. „Und das entspricht nicht den Qualitätsstandards, die wir in einem reichen Bundesland wie Bayern erwarten.“
Kurzfristig werde man das Problem angehen, indem man pensionierte Kollegen zurückholt, Referendare vorm zweiten Staatsexamen und Lehramts-Studenten höherer Semester einsetzt. Langfristig müsse man die Zahl der Lehrkräfte und der mobilen Reserve aufstocken, fordert der BLLV.