Als der Terror nach Bayern kam – auf Spurensuche in Franken
Würzburg/Ansbach - Die Regionalbahn fährt immer um 21.09 Uhr am Grundstück von Melanie Göttle vorbei. "Eigentlich waren das immer die guten Züge", sagt sie - Güterzüge seien deutlich lauter. Seit dem 18. Juli ist das anders. An diesem Tag ging in einer Regionalbahn ein 17-Jähriger mit einer Axt und einem Messer auf Fahrgäste los. Der Zug kam direkt vor Göttles Haus zum Stehen. Mit Verbandszeug kam sie als eine der ersten zum Tatort. 15 Messerstiche zählte sie im Bein eines Opfers. Seit diesem Tag ist sie nicht mehr Zug gefahren.
Es war der Moment, in dem der Terror des IS endgültig auch in Deutschland ankam. Im Februar hatte eine sympathisierende Schülerin in Hannover einen Bundespolizisten mit einem Messer angegriffen, doch bisher hatte es noch nie so viele Opfer gegeben. Fünf Menschen verletzte der Attentäter von Würzburg schwer, bevor er von Polizisten erschossen wurde. Kaum eine Woche später folgte der Selbstmordanschlag in Ansbach mit 15 Verletzten, der Attentäter starb. Beide Täter waren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Wie ist die Stimmung in den beiden Städten, jetzt, rund ein halbes Jahr nach den schrecklichen Taten? Und wie die Haltung zu Flüchtlingen in Würzburg und Ansbach?

Der Sprengsatz des Attentäters von Ansbach detonierte vorzeitig. Foto: dpa
"Zum Glück ist nicht mehr passiert."
"Jetzt lasst's mal gut sein", brummt der Besitzer des Plattenladens. Der Laden liegt in der Ansbacher Innenstadt direkt an dem kleinen Platz, wo die Bombe des 27-jährigen Attentäters am 24. Juli explodierte. Seinen Namen will er nicht nennen. Überhaupt scheint der Ladenbesitzer nicht erfreut über den Medien-Rummel, der die mittelfränkische Beamtenstadt seit dem Schicksalstag immer wieder heimsucht. Die ganzen Journalisten hätten ihm seine Kundschaft verjagt, sagt er.
Er selbst war an dem Tag nicht da. Über den Anschlag sagt er lediglich: "Zum Glück ist nicht mehr passiert." Seine Einstellung gegenüber Flüchtlingen und Fremden habe sich kein bisschen verändert. Es sei eine Einzeltat gewesen. Von einem geschädigten Ruf der Stadt Ansbach hält er nichts.
Derart pragmatisch zeigen sich knapp ein halbes Jahr nach dem Anschlag viele Ansbacher. Etliche sprechen von einem Einzelfall. Das Leben in der Stadt habe sich danach schnell wieder normalisiert, hört man oft. Auch vor Eugens Weinstube, direkt neben dem Plattenladen, erinnert kaum noch etwas an den Tag. Die Tische und Stühle, an denen Opfer und Zeugen des Attentats saßen, sind für den Winter weggeräumt. In der klirrenden Kälte herrscht Stille.
In diesem Regiolazug verübte der Flüchtling seinen Axt-Anschlag. Foto: dpa
Am Wochenende nach dem Anschlag demonstrierten NPD und AfD in der Stadt
Auch in Würzburg-Heidingsfeld ist es ruhig geworden. "Inzwischen ist es weit weg", sagt Stephan Schmidt. Er ist Pfarrer der evangelischen Gemeinde des Stadtteils, in dem der Anschlag passierte. In den ersten Tagen sei es ein Schock gewesen. "Was muss in diesem jungen Mann vorgegangen sein?" Die Frage habe er oft gehört. Die Menschen hätten es danach geschafft, den Anschlag wegzuschieben. "Es war ein Ereignis, das für Deutschland zentraler ist als für die Anwohner."
Schmidt, randlose Brille, hohe Stirn, Flanellsakko, hat zwei Töchter. Nach dem Anschlag habe es schon Diskussionen gegeben, ob die Kinder nachts noch alleine nach Hause gehen könnten. "Aber das kommt nach einem Attentat immer", sagt Schmidt entschieden. "Meine Sorge ist, dass solche Ereignisse benutzt werden, um bestimmte politische Ziele zu erreichen."
Denn beide Täter kamen als Flüchtlinge. Am Wochenende nach dem Würzburger Anschlag demonstrierten nacheinander NPD und AfD in der Stadt. Bei den Flüchtlingshelfern habe die Tat "schon ein großes Fragezeichen" im Selbstverständnis hinterlassen, sagt der Geistliche. Das sei vorbei: Die, die vorher schon geholfen haben, helfen weiterhin, wegen des Anschlags sei keiner abgesprungen.

Pfarrer Schmidt fürchtet die Symbolwirkung des Anschlags. Foto: dpa
"Viele Menschen sind sensibler oder dünnhäutiger geworden"
Victor Heck sitzt in Heidingsfeld der Bürgervereinigung vor, dem Dachverband der Vereine im Ort. Das Engagement für Flüchtlinge sei nicht weniger geworden. Doch ein Problem sei die Furcht. Es gebe Frauen, die ihren Hund nicht mehr ausführen, wenn es dunkel ist. Oder junge Mütter, die nicht mehr ohne Pfefferspray aus dem Haus gingen.
Die Wunden des Juli sind auch in Ansbach noch zu spüren. Pfarrer Martin Reuther spricht viel mit den Menschen in der Stadt und weiß, dass der Tag längst nicht bei allen abgehakt ist. Er selber war in der Nacht vor Ort. Er habe sich auch um die Menschen gekümmert, die den Anschlag miterlebt hatten. Inzwischen sei die akute Angst um die Sicherheit, die viele verspürt hätten, zwar verflogen. "Aber viele Menschen sind sensibler oder dünnhäutiger geworden."
Der Pfarrer denkt lange nach, wählt seine Worte sorgsam. Einige der älteren Bewohner seien durchaus beim Thema Flüchtlinge ins Grübeln gekommen, sagt er. Manche hätten Vorbehalte. "Natürlich gab es welche, die verunsichert waren, dass sich einer radikalisiert hat." Er versuche, durch Gespräche den Menschen die Sorgen zu nehmen und Themen wie Gewalt und Flüchtlinge nicht unter den Teppich zu kehren, sondern immer wieder anzusprechen.

Der Attentäter richtete in dem Regionalzug ein beispielloses Blutbad an. Foto: dpa
"Ich kann Ihnen in Worten nicht fassen, wie enttäuscht ich bin!"
Denn es gibt auch Menschen, die seit dem Anschlag zornig sind. Zu ihnen gehört Augenzeugin Melanie Göttle. Sie schrieb zehn Tage nach dem Anschlag eine E-Mail an Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). "Hätten Sie Ihren Mann mit (im wahrsten Sinne des Wortes) gespaltenem Schädel und geöffnetem Bauch in diesem Zug vorgefunden, vollzogen von einem 'traumatisierten Flüchtling', hätten Sie mit Sicherheit Ihre Flüchtlingspolitik noch einmal durchdacht!", schrieb die 44-Jährige. "Ich kann Ihnen in Worten nicht fassen, wie enttäuscht ich bin! Ich habe Sie einst gewählt!"
Würzburgs Oberbürgermeister Christian Schuchardt kennt Worte wie diese. "Die Empathie auf der Straße, im öffentlichen Diskurs, hat nachgelassen", sagt der CDU-Politiker. "Der Anschlag hat die Leute schon zutiefst verunsichert." Die Debatte über Flüchtlinge habe sich zugespitzt. "Ein Politiker ist entweder ein Flüchtlingsfreund oder er ist für abgeschottete Grenzen." Polarisierung statt Differenzierung - das präge die Gesellschaft im Moment. "Ich sage bewusst nicht 'spaltet'. Aber: prägt."
Schuchardt hört trotzdem nicht auf, dafür zu werben, Flüchtlinge engagiert zu integrieren. "Kein Bürgermeister ruft nach Flüchtlingen, aber wir müssen mit der Situation und ihren Konsequenzen umgehen", sagte er kürzlich vor Bürgermeistern aus ganz Europa. Sie, die Bürgermeister, müssten dabei vorangehen, geleitet von einem "Geist der toleranten Humanität in Freiheit".

Melanie Göttle war als erste Helferin in dem Anschlags-Zug. Foto: dpa
"In jeder Gesellschaft gibt es gute und schlechte Menschen."
Besuch in Ochsenfurt. Schnee liegt in dem 11.000-Einwohner-Städtchen am Main. Hier war der Würzburger Attentäter aufgenommen worden, zuerst in einem kirchlichen Jugendheim, dann bei einer Pflegefamilie. Bürgermeister Peter Juks (Freie Wähler) steht am Fenster seines Amtszimmers. "Man wird ja nun leider nicht mehr sagen können, was ihn getrieben hat", sagt er und blickt ins Schneegestöber.
Simone Barrientos, Verlegerin und Flüchtlingshelferin bei der AWO, nennt Ochsenfurt gerne die "Jetzt-erst-recht-Stadt". Die Bezeichnung kommt vom Magazin "Spiegel" - Barrientos zufolge trifft sie vollends zu. Nicht nur sei in der Flüchtlingshilfe nach dem Anschlag niemand abgesprungen. Viele, die vorher schon halfen, hätten ihr Engagement ausgeweitet. Eine ältere Dame, erzählt Barrientos, habe den Familienrat einberufen und verkündet, die Zweitwohnung der Familie nicht mehr als Ferienwohnung zu vermieten, sondern an eine Flüchtlingsfamilie. "Ochsenfurt ist für mich das gleiche, was es vorher war - eine Stadt mit sehr besonderen Menschen", sagt sie.
In Ansbach hilft Klaus Werner seit mehr als einem Jahr Asylbewerbern, die in die Stadt kommen: Behördengänge, Möbel kaufen, Konto eröffnen. Ihm mache das Helfen Spaß, er habe auch einige neue Freundschaften geschlossen. Der Anschlag spiele mittlerweile keine Rolle mehr, sagt der 56-Jährige. "In jeder Gesellschaft gibt es gute und schlechte Menschen."

Nur ein Schild erinnert noch an den Ort des Ansbacher Anschlags. Foto: dpa
"Meinen Hass kriegt ihr nicht" steht am Ort des Anschlags
Einer der Flüchtlinge, die Werner unterstützt, ist Muhamad Al Mahmod. "Nach dem Anschlag dachte ich mir nur: Ich hoffe, dass es kein Syrer war", erinnert er sich. Der 29 Jahre alte Syrer aus dem Nordosten des Landes hat ein rundes, freundliches Gesicht und spricht nach zweieinhalb Jahren in Deutschland gutes Deutsch. "Ich hatte Angst, dass die Menschen uns nicht mehr helfen wollen würden." Die Angst sei unbegründet gewesen: Verändert habe sich nichts.
Der Blick in der Stadt ist ein halbes Jahr nach dem Anschlag nach vorne gerichtet. Pragmatisch. Die Stadt konzentriere sich besonders auf die Integration von Asylbewerbern, erklärt die parteilose Oberbürgermeisterin Carda Seidel. Ankommenskurse, Ausbildung, Praktika. Dabei setze sie klare Linien. "Auch die Flüchtlinge müssen sich einfügen und Regeln einhalten."
"Der Umgang mit diesem Gewaltakt gehört zu Ansbach", sagt Pfarrer Reuther. An einem Fenster der Weinstube, vor der die Bombe im Juli explodierte, lehnt immer noch ein Schild. "Meinen Hass kriegt ihr nicht", steht darauf.