"Situation hat sich leider nicht entspannt": 30 Grad und die Seen in Bayern sind am Limit
Am Irschenberg schlägt die Nacht ihr letztes Kapitel auf. Fünf Glockenschläge der römisch-katholischen Pfarrkirche St. Johannes der Täufer läuten den Tag ein. Kurz darauf tauchen erste Sonnenstrahlen die Hügel 45 Kilometer vor München in warmes Licht. Noch ruht das bayerische Voralpenland in Stille – bis der Verkehrslärm die Naturklänge endgültig verschluckt.
Kein Wölkchen trübt den Himmel, das Thermometer klettert unaufhaltsam über die 30-Grad-Marke. Wer bis acht Uhr den Höhenzug an der A8 nicht passiert hat, teilt das Schicksal vieler anderer: einen Platz im Horror-Stau. Dann dominieren wieder Autos mit "M“- und "MUC“-Kennzeichen die Straßen – weit mehr, als der Ort überhaupt Einwohner zählt.
"Lago die Bonzo": Gibt es wieder Horror-Staus in Bayerns Voralpenland?
Die Region um den Irschenberg ist das Tor zu den schönsten Seen Bayerns. Hinter dem Höhenzug erstrecken sich Chiemsee und Schliersee, während sich vor Holzkirchen die Wege zum Kirchsee und Tegernsee trennen. Doch gerade an warmen Wochenenden zeigt sich immer wieder die Kehrseite des Besucherbooms.
Beim "Lago di Bonzo“, wie der Tegernsee seit den 1960er-Jahren wegen seiner prominenten Besucher oft genannt wird, laufen die Vorbereitungen auf die Besucherflut auf Hochtouren. Marcus Weisbecker von der Bayerischen Seenschifffahrt weiß genau, was ihn und seine Kollegen dort und am Königssee, Starnberger See sowie Ammersee erwartet: Badegäste, die den Schiffsbetrieb stören.
"Das führt zu großer Frustration"
"Leider hat sich die Situation nicht entspannt“, sagt er der AZ. Immer wieder kommt es ihm zufolge zu Konflikten mit Fahrgastschiffen. Die können die Stege wegen der vielen Schwimmer zum Teil nicht anfahren. "Das führt zu großer Frustration bei den Gästen an Bord.“

Viele Schwimmer springen in die Bugwellen der Schiffe, "um dann als Mutprobe den Rumpf zu berühren“. In Bayern habe es bisher keine nennenswerten Unfälle gegeben – trotzdem ist das lebensgefährlich. Stress verursachen ebenso zahlreiche Stand-up-Paddler, die keinen Abstand zu den Booten halten.
Bayerische Seen sind noch kalt: Gefahren sind deshalb größer
Immer wieder unterschätzen die Stehpaddler Risiken, sind ungeübt und sehr weit draußen auf dem See unterwegs. Bei Eching am Ammersee ertrank 2022 eine junge Nichtschwimmerin 300 Meter vom Ufer entfernt. Die 16-Jährige fiel von ihrem Board, ihre Schwester konnte sich gerade noch retten.
Heribert Gobitz-Pfeifer vom Bayerischen Kanuverband mahnt zur Vorsicht. "Jetzt ist das Wasser noch kalt. Wer sich auf Gewässern abseits vom Ufer aufhält, braucht im Fall einer Kenterung Schutzkleidung“, sagt der Referent für Umwelt und Gewässer der AZ. "Das wird oft von Paddlern unterschätzt, die sich trotz Erfahrung von hohen Lufttemperaturen blenden lassen.“
Stromschnellen an der Isar: "Wer hineingezogen wird, kann von Glück reden, wenn er nur sein Boot verliert"
Beim Schwimmen spielt zudem oft Alkohol eine Rolle. So verschwand im letzten Jahr ein 29-Jähriger, der im Olchinger See schwimmen ging, nach 15 Minuten spurlos unter Wasser. Er wurde tot geborgen.

Besonders gefährlich ist der Bierkonsum außerdem auf der Isar, wo viele mit Schlauchbooten unterwegs sind. "Das ist ein Wildwasserfluss im ersten Schwierigkeitsgrad, nördlich von Schäftlarn wegen vieler Baumverhaue noch darüber“, so Gobitz-Pfeifer. "Wer dort von der Strömung hineingezogen wird, kann von Glück reden, wenn er nur sein Boot verliert.“
2024: 70 Todesfälle durch Ertrinken im Freistaat
Die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) verzeichnete 2024 in Bayern insgesamt 70 Todesfälle durch Ertrinken – davon 27 in Flüssen und 24 in Seen. Rund 206.000 Arbeitsstunden haben die Einsatzkräfte ehrenamtlich gearbeitet. 170 Menschen konnten sie so das Leben retten.
Zum Team der DLRG gehört auch Michael Förster, der sich im Gespräch mit der AZ an einen Fall vor einigen Jahren zurückerinnert. "Zuerst ging ein Mann in einen Baggersee im Münchner Norden – dann war er verschwunden. Darauf suchten ihn die nächsten zwei – auch sie waren plötzlich weg“, sagt er. Einer sei schließlich noch durch einen weiteren Schwimmer gerettet worden. Das Schicksal der anderen zwei war jedoch besiegelt: Sie starben.
Besonders viele junge und alte Menschen in Unfälle verwickelt
Einerseits überschätzen junge Männer ihre Fähigkeiten im alkoholisierten Zustand, teilt Förster mit. Auf der anderen Seite seien es vor allem ältere Menschen über 65 Jahre, die durch Kreislauf- und Herzerkrankungen vorbelastet sind. "Die können gut schwimmen, aber wenn sie bewusstlos werden, gehen sie sang- und klanglos unter.“
Außerdem appelliert der Lebensretter an Eltern mit jungen Kindern. Vor einigen Monaten ist ein Sechsjähriger allein in den Eisolzrieder See in Bergkirchen gegangen, die Familie befand sich derweil auf einer Liegewiese und bekam davon nichts mit. Im letzten Moment fand ein Erwachsener den Buben nahe dem Ufer unter Wasser. Einsatzkräfte konnten ihn reanimieren.
"Das war ein extrem fordernder Einsatz und hat viele an ihre Grenzen gebracht"
Derartige Rettungsaktionen belasten die Einsatzkräfte psychisch stark, bestätigt Thomas Huber, Landesvorsitzender der Wasserwacht in Bayern. Besonders das Jahr 2023 ist ihm in Erinnerung geblieben – als ein Elfjähriger beim Kanufahren auf der Amper starb. "Das war ein extrem fordernder Einsatz für alle 120 Einsatzkräfte und hat viele an ihre Grenzen gebracht.“
Nicht nur die Unfallgefahr für Menschen zeigt sich jedes Jahr erneut, sondern auch, wie sich Personen immer weiter Naturräumen annähern. Die Gemeinde Dießen am Ammersee ist nicht nur von Besuchern überlaufen und hatte deshalb die Preise für Parktickets Anfang des Jahres drastisch erhöht, sondern kämpft auch mit massiven Umweltproblemen.
"Den Menschen ist die Natur immer mehr egal“
Jana Jokisch vom Landesbund für Vogel- und Naturschutz sieht sich mit den Folgen des Besucherdrucks konfrontiert: "Jugendliche haben ein Naturschutzgebiet in Brand gesetzt, es gab eine Feier auf einem Partyfloß und andere Störungen – wie Kiter und Bootsfahrer – haben zum Beuteabbruch der seltenen Fischadler geführt“, sagt die Umweltexpertin der AZ. "Es entsteht der Eindruck, dass den Menschen die Natur immer mehr egal ist.“

2024 hatte zum ersten Mal seit mehr als 200 Jahren in Oberbayern ein Fischadler-Pärchen am Ammersee gebrütet. Nachdem die Bürger dort zu viel gefeiert haben, machen sie das heuer nicht mehr. Jokisch bittet deshalb Schwimmer und Bootsfahrer um Zurückhaltung. Dabei sollen sie die Bojen-Begrenzung am Südende des Ammersees nicht überfahren.
Es sind also vermeintlich kleine Regeln, die den Unterschied machen – damit die Natur ein Ort bleibt, an dem alle aufatmen können. Doch wer im Stau steht und den Lärm des Verkehrs spürt, dem bleibt die Stille des Morgens ohnehin verborgen. Vielleicht beginnt Rücksicht auch damit, dieser Stille mehr Raum zu geben.
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