Tommy Haas: „Bestes Tennis-Kino“
LONDON - Der Spezialist für die aufwühlenden Momente:Tommy Haas triumphiert im Zwei-Tages-Match gegen Cilic mit 10:8 im 5. Satz. „Das ganze Tennis freut sich für ihn.“ Am Montag schon das Achtelfinale.
Als Tommy Haas am Samstagnachmittag auf der Terrasse des Spielerzentrums gerade den abendlichen Speiseplan mit seiner Verlobten Sara Foster besprach, kam auch Davis Cup-Teamchef Patrik Kühnen um die Ecke. Der Bundestrainer umarmte den Helden vieler legendärer Länderspiel-Schlachten, dann klatschte er die Hände ab mit Haas, und dann sagte er mit augenzwinkerndem Lächeln: „Guter Job, Mann!“ Es war die Untertreibung des Jahres.
Es war ein Thriller ohne Beispiel, den der stolze Achtelfinalist Haas über zwei Spieltage und fünf Sätze hingelegt hatte, in einem Duell zwischen Himmel und Hölle, das mal in strahlendem Sonnenschein und mal in fahlem Zwielicht ausgetragen wurde. „Das war die verrückteste Nummer überhaupt", sagte Haas nach dem 7:5, 7:5, 1:6, 6:7 (3:7), 10:8-Triumph gegen den Kroaten Marin Cilic.
Erst zum zweiten Mal in elf Jahren in die zweite Turnierwoche vorgerückt, trifft Haas (31) an diesem Montag auf den launischen Russen Igor Andrejew – eine lösbare Aufgabe für den deutschen Unterhaltungsspezialisten.
Haas: "Ich muss jetzt nehmen, was ich kriegen kann"
Ausgerechnet der dreimal an der Schulter operierte und dreimal ins Profigeschäft zurückgekehrte Deutsche liefert seit den French Open die turbulentesten, aufwühlendsten Geschichten im Wanderzirkus. „Das ganze Tennis freut sich für Tommy. Keiner hat nach all den Schicksalsschlägen den Erfolg so verdient wie er", sagte der ehemalige Wimbledon-Champion Pat Cash, „und seine Spiele, das ist einfach bestes Tennis-Kino."
Bei den French Open war er nur einen Punkt davon entfernt, dem späteren Champion Roger Federer das Rendezvous mit der Unsterblichkeit zu vermasseln – aber nach einer 2:0-Satzführung und einem Vorsprung auch im dritten Akt ging Haas noch als grimmiger Verlierer vom Platz. Kaum erholt vom Schock der verpassten Großchance, stürmte Verwandlungskünstler Haas auf den Thron bei den deutschen Rasenfestivitäten in Halle und grüßte als stolzer Gerry Weber Open-Sieger nach dem Finalerfolg über den Weltranglisten-Vierten Novak Djokovic. Und nun dies in den ersten sechs Tagen auf den vornehmen Grüns des All England Club: Ein Zwei-Tages-Match gegen den Österreicher Alexander Peya, bei dem Haas in den Überstunden am Dienstag nur noch zwei Spiele und elf Minuten auf dem Platz war. Und dann gleich hinterher der Aufgabesieg in Runde zwei gegen Michael Llodra, den unglücklichen Franzosen, der beim Stande von 4:3 gegen einen Schiedsrichterstuhl geknallt war. „Im Moment passiert in ein paar Wochen so viel wie sonst in ein paar Jahren", sagte Haas danach.
Gegen Cilic lag Haas wieder, wie schon in Paris gegen Federer, 2:0-Sätze vorn, wieder schmolz der Vorsprung. Er vergab zwei Matchbälle im vierten Satz, als noch die Abendsonne schien. Er wehrte zwei Matchbälle bei 5:6 im fünften Satz ab, als schon die Dunkelheit über den Platz hereingebrochen war. Und schließlich siegte er in der 26-Minuten-Verlängerung am Samstag dann doch mit 10:8. „Ich habe nicht mehr so viele Chancen. Ich muss jetzt nehmen, was ich kriegen kann", sagte Haas.
Ob Wimbledon ihm am Schluss noch den ersten Grand-Slam-Titel schenkt?
Jörg Allmeroth