Serena Williams: Die größte Unbekannte

London - Wenn Richard Williams morgens an den Menschenschlangen zum All England Club vorbeimarschiert, hat er immer ein „Weihnachtsgeschenk mitten im Sommer” parat. Der Mann, der einst als „Mutter aller Tennisväter” beschrieben wurde, drückt in Geberlaune dann schon mal australischen Teenagern oder einer kanadischen Familie eine Handvoll Centre-Court-Tickets in die Hand. „Hier stehen die Menschen, die Tennis genau so lieben wie wir. Wie die Williamses”, sagt Daddy Williams, der in den letzten beiden Jahrzehnten nicht nur die spektakuläre Erfolgsstory seiner „Cinderellas aus dem Ghetto” in Szene setzte, das Tennismärchen von Serena und Venus, sondern nebenher noch vom Parkplatzwächter zum Gebieter über ein millionenschweres Firmenimperium aufstieg.
Wenn die Wettergötter ein Einsehen haben, werden auch die von Richie Williams beschenkten Wimbledon-Fans am Dienstag das nächste verrückte Kapitel der Familienchronik erleben können – unter dem Titel: „Vom Totenbett zurück auf den Centre Court.” In der Hauptbesetzung: Serena Williams, Titelverteidigerin der Offenen Englischen Meisterschaften und jüngere der beiden Schwestern, die einst in den Vorstädten von Los Angeles auch schon mal im Kugelhagel von Jugendgangs zu ihren Trainingseinheiten gelangten. Vor ein paar Monaten lag die bullige Fighterin noch in Amerika auf dem Operationstisch, bangte wegen einer Lungenembolie und der Entfernung eines Hämatoms in der Magengegend sogar um ihr Leben. Und nun ist die viermalige Wimbledon-Siegerin noch gerade rechtzeitig vor dem Saisonhöhepunkt aufs Grün zurückgekehrt. „Das Damentennis hat mich schon ein wenig vermisst, denke ich”, sagt „Little Sister” Serena, die in der ersten Turnierrunde gegen die Französin Aravane Rezai antritt.
Es ist ein Comeback nach dem Geschmack der Königin des Dramas: Wo das Damenturnier unter der diffusen Führungslage in der Weltspitze und Verletzungsabsagen von Stars wie Kim Clijsters leidet, spielt die prägendste Spielerin der letzten Wimbledonjahre ihre Lieblingsrolle – als große Unbekannte. „Sie wird wie eine Jägerin sein, die sich aus dem Dickicht anschleicht und ihre Beute erlegt”, sagt Daddy Williams, „kommt sie erst mal in die zweite Turnierwoche, dann ist alles drin für sie.” Als Spezialistin für ganz besondere Grand-Slam-Aufgaben ist die 29-Jährige wohlbekannt: 2007 schaffte sie bei den Australian Open etwa das Kunststück, als Nummer 81 der Weltrangliste das Turnier im Endspiel gegen die Nummer 1 Maria Scharapowa zu gewinnen. „Wenn du einer Spielerin ein verrücktes Ding zutraust, wenn du dich fragst, wer kann das Unmögliche möglich machen, dann bist du bei Serena”, sagt Altmeisterin Martina Navratilova.
Auch für die erfolgreichste aller aktiven Spielerinnen wäre ein Wimbledon-Coup der denkwürdige Höhepunkt einer turbulenten Karriere. Als die Amerikanerin im letzten Jahr London verließ, begannen die Kalamitäten. Bei einer Feier in einem Münchner Restaurant (in der Stadt lebt Trainingspartner Sascha Bajin) trat Serena Anfang Juli in eine Glasscherbe. Sie spielte anderntags, dick bandagiert, noch in einem Schaukampf in Brüssel gegen Kim Clijsters, einige Tage später diagnostizierten Ärzte, dass bei dem Malheur auch eine Sehne eingerissen ist. Williams wurde zwei Mal operiert, versäumte die US Open und den ganzen Rest der Saison 2010. Doch der „dickste Hammer”, wie Schwester Venus sagt, kam erst noch: Im letzten Moment entdeckte man eine Lungenembolie. Dann folgte die Entfernung des Magen-Hämatoms.
„Manchmal dachte ich, mein letztes Stündlein hätte schon geschlagen. Ich fühlte mich wie auf dem Totenbett”, sagt Williams. Nun hat sie sich punktgenau zurückgemeldet zu dem Turnier der Turniere. Nach 49 Wochen Pause spielte sie letzte Woche in Eastbourne leidlich mit in der Damenkonkurrenz, hatte leichte Konditions- und Technikprobleme, schied nach dem zweiten Spiel aus. Aber Wimbledon ist ein anderer Ort, an dem Serena Williams eine andere Spielerin ist. Mit unheimlichem Machtfaktor: „Ich weiß, dass sich viele vor mir fürchten”, sagt sie selbst.