Post aus Wimbledon: Das größte Spiel aller Zeiten

Die Erstrundenbegegnung zwischen dem Amerikaner John Isner und dem Franzosen Nicolas Mahut hat nun wirklich den Tee kalt werden lassen - Die Wimbledon-Kolumne von Gunther Beth.
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*  Gunther Beth, Schauspieler &  Autor („Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“) lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ
AZ * Gunther Beth, Schauspieler & Autor („Der Neurosen-Kavalier“, „Trau keinem über 60!“) lebt in München. Seit 2004 ist er Wimbledon-Kolumnist der AZ

MÜNCHEN - Die Erstrundenbegegnung zwischen dem Amerikaner John Isner und dem Franzosen Nicolas Mahut hat nun wirklich den Tee kalt werden lassen - Die Wimbledon-Kolumne von Gunther Beth.

Engländer sind berühmt, eher noch berüchtigt, für ihre Engelsgeduld. Keine Schlange zu lang, keine Verspätung zu groß, keine WM-Endrunde mit britischer Beteiligung ohne Verlängerung und Elfmeterschießen. Aber die Erstrundenbegegnung zwischen dem Amerikaner John Isner und dem Franzosen Nicolas Mahut hat nun wirklich den Tee kalt werden lassen: Gestern nachmittag endete dieses Match nach 3 Tagen, 11 Stunden und 5 Minuten effektiver Spielzeit und geht als das längste Tennis-Spiel in das Guinness-Buch der Rekorde ein. Aber während in dieser Bibel der Superlative auch Leistungen wie die Bestmarke im Badewannen-Dauersitzen oder beim Kirschkern-Weitspucken verewigt sind, ist jetzt ein Ereignis von historischer Dimension festzuhalten: ein Match, wie es größer, faszinierender und verrückter niemals mehr sein wird.

Begonnen hat es am Dienstag um 18 Uhr 08 auf Platz 18, einem der unscheinbareren Außen-Courts. Beim Satz-Gleichstand von 6:4, 3:6, 6:7 und 7:6 mußte die Partie wegen Dunkelheit abgebrochen und am nächsten Tag um 14 Uhr 05 wieder aufgenommen werden. Da in Wimbledon der letzte Satz nicht im Tie-Break ausgespielt wird, sondern wie alle übrigen Sätze (also mit mindestens zwei Spielen Differenz), kann sich die Entscheidung manchmal hinziehen. Aber kein Mensch konnte ahnen, was an diesem Mittwoch passiert: Beim Spielstand von 47:47 (in Worten: siebenundvierzig zu siebenundvierzig) versagt die elektronische Anzeigentafel, und das einzige, worauf man sich noch verlassen kann, ist die Nacht. Und als die, mit vollem Mond, wieder hereinbricht, wird das Match nach insgesamt 10 Stunden Spielzeit erneut abgebrochen. Es steht jetzt 59:59 ... Donnerstag, 24.Juni 2010: Es geht weiter - und um 16 Uhr 48 Ortszeit gelingt John Isner schließlich das Break zum 70:68 und damit der Matchgewinn - nach 11 Stunden und 5 Minuten. Mehr Tennis gab es noch nie. Die bis dato längste Grand-Slam-Begegnung hatten sich die beiden Franzosen Fabrice Santoro und Arnauld Clement 2004 bei den French Open in Paris mit 6 Stunden und 33 Minuten geliefert: Santoro siegte 6:4, 6:3, 6:7, 3:6, 16:14 - auf Sand, also dem langsamsten Belag aller Turniere. Der Rasen von Wimbledon ist der schnellste, so dass es manchmal zu erschütternd kurzen Vorstellungen kommen kann. Der Show-Down vom 22. - 24.Juni 2010 jedoch, diese Trilogie des Wahnsinns, hat nun alles, aber auch wirklich alles auf den Kopf gestellt. Das muss man sich mal vorstellen: 183 Spiele, insgesamt 980 ausgespielte Punkte, zusammen 215 Asse bei nur 31 Doppelfehlern. Als der letzte Ball geschlagen ist, ertrinkt allles in einer Welle von Bewunderung, Ungläubigkeit, Hysterie und Ovationen. Bei der Umarmung am Netz kann keiner der beiden Spieler noch richtig stehen, geschweige denn, richtig begreifen, was zwischen ihnen geschehen ist. Und für die Zuschauer scheint es fast nebensächlich, da ß hier auch einer gewonnen und der andere verloren hat. Um die epochale Bedeutung des Ereignisses zu würdigen, betritt der Chair Man des All England Club den Rasen, hält - zitternd vor innerer Bewegung - eine für hiesige Verhältnisse stark emotionale Dankesrede und läßt spontan zwei Sonderpreise an die Gladiatoren überreichen - durch Tim Henman, dem ewigen Halbfinalisten, und der Ex-Wimbledon-Siegerin Ann Jones. Und fairerweise wird nicht vergessen, auch die Schieds- und die Linienrichter sowie die Ballkinder hochleben zu lassen - immerhin: 11 Stunden und 5 Minuten ohne Pinkelpause, auch das ist eine reife Leistung.

John Isner und Nicolas Mahut - sie sind bei diesem Turnier als sogenannte Gewöhnliche aufgetaucht und zu Helden geworden. Sie haben sämtliche Rekorde dieser Branche gebrochen und gehen nun für immer in die Annalen ein. Ihr Ruhm ist unvergänglich, was immer ihnen daraus an Vor- oder Nachteilen erwächst. Sie haben Geschichte geschrieben.

Wer Wimbledon kennt, weiss: Kein Spieler kann größer sein als das Turnier selbst - aber dafür verwandelt es seine Spieler manchmal in Legenden. Und das genau ist die Magie dieses ältesten, schwierigsten und schönsten Tennisturniers. „Der Heilige Rasen von Wimbledon“ hat Gottfried von Cramm gesagt, „ist nicht nur ein sportlicher Traum, sondern ein Rendezvous mit der Ewigkeit“. Isner und Mahut sind ein neuer, grossartiger Beweis. Und sie haben gestern nicht nur der Queen bei ihrem Besuch die Show gestohlen, sondern sogar dafür gesorgt, daß der „Tennisgott“ über König Fußball triumphiert hat.

PS: Der einzige Krimi in London, der noch länger läuft als Isner & Mahut, ist im St.Martin's Theatre Agatha Christie‘s „Mausefalle“ - die war gestern abend nämlich schon 58 Jahre, 6 Monate und 30 Tage zu sehen.

Gunther Beth

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