Tom Bartels: "Terror-Angst? Wir sind Verdrängungsmonster"

EM-Gespräch mit Tom Bartels: Der 50-Jährige ist für die ARD bei der EM vor Ort. Er kommentierte am 13. November das Testspiel zwischen Frankreich und Deutschland in Paris, während dem es in der französischen Hauptstadt und vor dem Stadion Terroranschläge gab, bei denen insgesamt 130 Menschen den Tod fanden.
AZ: Herr Bartels, in der Terrornacht von Paris haben Sie das Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland kommentiert. Mit welchem Gefühl sitzen Sie nun bei der EM auf der Tribüne?
TOM BARTELS: Ein bisschen was hat sich seitdem geändert, aber letztlich ist alles fast wie immer. Wir Menschen sind Verdrängungsmonster, sonst wären wir gar nicht lebensfähig. Ich war auch nicht zum ersten Mal in einer Stadt, in der ein Terroranschlag passiert ist. Ich war damals in Madrid 2004, als eine Bombe hochgegangen ist. Ich war in Israel, als in der Nähe Anschläge passiert sind. Auch das hat man irgendwie verarbeitet. Ich bin mit keinem guten Gefühl nach Frankreich gekommen, inzwischen ist es aber fast wieder Alltag.
Fühlen Sie sich im Stadion denn sicher?
Ja. Klar zuckt man mal, wenn irgendwo ein Böller hochgeht. Aber dann reißt man sich zusammen und macht weiter. Man hofft einfach, dass nichts passiert.
Morgen kommentieren Sie für die ARD das Spiel der DFB-Elf gegen Nordirland. Ist ein mögliches deutsches Aus auch Teil Ihrer Vorbereitung?
Ich bin da nicht so pessimistisch, weil ja auch vier Punkte wohl schon zum Weiterkommen reichen. Ans Ausscheiden denke ich nicht, so gut ist Nordirland dann auch nicht. Das darf der deutschen Mannschaft einfach nicht passieren.
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Auf was für einen Gegner muss sich Löws Team einstellen?
Nordirland hat zwei völlig verschiedene Spiele abgeliefert. Das erste gegen Polen war extrem defensiv, das zweite gegen die Ukraine wesentlich mutiger, so wie in der Quali. Ich weiß nicht, ob sie sich das gegen Deutschland trauen.
Angst hat der Weltmeister bislang nicht verbreitet.
Ich habe damit gerechnet, dass die Mannschaft drei oder vier Spiele braucht, um in diesem Turnier anzukommen. Nach der WM haben wir in den zwei Jahren viele Spiele verloren, auch Pflichtspiele wie gegen Polen oder Irland in der Qualifikation. Es hätte mich deshalb gewundert, wenn man auf Knopfdruck wieder Topleistungen bringt.
Was muss besser werden?
Eine Menge. Jemand wie Philipp Lahm ist einfach nicht zu ersetzen, es ist nicht gelungen, dort eine gute Alternative zu finden. Benedikt Höwedes macht jetzt die rechte Seite zu, bei der WM war er noch links. Vorne passiert auf der rechten Seite wenig. Jonas Hector macht das auf links vernünftig, aber auch da gibt es keine Alternative. Und neu ist, dass wir uns kaum noch Chancen herausspielen. Das war in der Quali noch ganz anders, da war eher die Chancenverwertung das Problem. Ich glaube aber schon, dass die Mannschaft sich steigert und in der K.o.-Runde mehr rausholt. Ich gehe auch davon aus, dass es personelle Veränderungen geben wird, Mario Gomez könnte in die Startelf rücken.
Welche Mannschaft hat bislang den stärksten Eindruck auf Sie gemacht?
Belgien hat trotz der Niederlage gegen Italien sehr gut gespielt. Sie haben eine unglaubliche Qualität und haben das beim 3:0 gegen Irland auch schon gezeigt. Ob Italien die überragende Leistung aus dem ersten Spiel über sieben Spiele halten kann, wage ich zu bezweifeln. Spanien war vor dem Turnier mein Favorit, Frankreich hat sich gesteigert. Das ist eine Mannschaft, die überragend kontern kann. Es sind also die Mannschaften am stärksten, die man vor dem Turnier erwartet hat.
Für Mario Götze läuft das Turnier noch nicht wie gewünscht. Er hat ja auch in Ihrer Karriere keine unwesentliche Rolle gespielt. „Mach ihn! Er macht ihn!“ – Ihren Kommentar zu Götzes Tor im WM-Finale 2014 kennt jeder deutsche Fan. War das der schönste Moment Ihrer Karriere?
Ja, auf jeden Fall. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass noch ein schönerer Moment kommt. Das war mir schon kurz danach klar. Ein WM-Finale im Maracana – da muss ich realistisch sein, mehr kann nicht passieren. Es war für mich ein unglaubliches Glück, das Spiel kommentieren zu dürfen.
„Es war für mich ein unglaubliches Glück, das Spiel kommentieren zu dürfen“: Tom Bartels war die Stimme des WM-Finales. Foto: firo/Augenklick
Der „Mach ihn“-Spruch kam damals ja völlig spontan aus Ihnen raus. Haben Sie für solche Momente eigentlich Sätze vorbereitet?
Wichtige Infos sucht man natürlich vorher raus, um den Zuschauer zu informieren. Aber wenn man in den entscheidenden Situationen anfängt, irgendwelche abgestanzten Sätze aufzusagen, merkt das auch der letzte Zuschauer. Ich ärgere mich persönlich auch selbst darüber, wenn ich bei einem Reporter höre, dass er zwei Minuten nur vom Zettel abliest. So ein Siegtor kann ja in jeder möglichen Situation fallen, da muss man immer das Geschehen auf dem Rasen im Blick haben. Es ist wichtig, in solchen Momenten authentisch zu bleiben.