Psychologe: So beendet Deutschland den Italien-Fluch
Jörg Schönenberg ist Diplomsportlehrer, Sportpsychologe und -therapeut. Im AZ-Interview erklärt er, wie die Nationalelf im EM-Halbfinale den "Italien-Fluch" ablegen kann, wie Fußballer im Profigeschäft mit dem medialen Druck umgehen und welche Rolle Psychologen im heutigen Leistungssport zukommt.
AZ: Herr Schönenberg, am Donnerstag trifft Deutschland im EM-Halbfinale auf Italien - ihr Tipp?
Jörg Schönenberg: Nicht, dass Sie mich später darauf festnageln - aber ich sage 2:1 für Deutschland.
Das würde bedeuten, dass Deutschland den "Italien-Fluch" beendet. In der Vergangenheit konnte die Nationalelf bei großen Turnieren noch nie gegen die "Squadra Azzurra" gewinnen. Spielt das am Donnerstag in den Köpfen der Spieler eine Rolle?
Italien wird als typischer "Angstgegner" betrachtet. Und so etwas kann sich selbstverständlich auch in Mannschaften und den Köpfen der Spieler festsetzen.
Was wären die Auswirkungen?
Es kann unter Umständen zu dem Phänomen der "selbsterfüllenden Prophezeiung" kommen. Wenn sich schon im Vorfeld der Gedanke breitmacht, dass ich gegen diesen "Angstgegner" gar keine Chance habe, dann ist das Scheitern wahrscheinlicher, als es realistischerweise vielleicht angemessen wäre. Wenn ich mit dem Fokus ins Spiel gehe "Die kann ich ja gar nicht schlagen", dann kann ich meine optimale Leistung auch nicht abrufen. Da ist es egal, ob es sich um die Kreisliga, die Bundesliga oder eine WM bzw. EM handelt.
Wie kann man dem entgegenwirken?
Es ist sehr wichtig, Aspekte zu finden und zu thematisieren, die realistisch und positiv sind. Zum Beispiel nüchtern und sachlich festzustellen, dass einem die Spielweise des Gegners bisher anscheinend nie so richtig gelegen hat, und man deshalb auch in der Vergangenheit einige negative Erfahrungen gemacht hat. Man hat bisher vielleicht noch nie die richtige Lösung und das richtige Konzept gefunden – nicht mehr und nicht weniger.
Trainer und Betreuerteam müssen herausfinden, wie die Erfolgswahrscheinlichkeit wieder steigt. Es muss vermittelt werden, dass es eine Herausforderung für das gesamte Team ist, diesen Gegner jetzt zu schlagen. Dass ich eine realistische Siegchance habe, an die ich auch fest glaube. Das ist entscheidend. Dieses Trauma, dieser Begriff des "Angstgegners" darf gar nicht Gegenstand des Denkens sein. Sobald ich "Angstgegner" denke, habe ich eine Hürde mehr zu nehmen, als ich in der Realität eigentlich müsste. Man geht sich selbst in die Falle und erlaubt so gar nicht, sein Potenzial voll abzurufen.
Der Fokus muss sein: Bisher haben wir gegen diese Mannschaft zwar noch nicht die richtige Lösung gefunden - doch die Vergangenheit ist nicht die Gegenwart und Zukunft! Heute spielen wir gegen einen anderen Gegner als damals und wir können dieses Spiel gewinnen. Und die bisherige Spielweise der Deutschen spricht in meinen Augen dafür, dass sie auch in dieses Spiel mit dem Brustton der Überzeugung gehen werden. Nach dem Motto: Wir orientieren uns nicht am Gegner, sondern spielen unser Spiel in unserem Rhythmus. Dann können wir jeden Gegner schlagen.
Das heißt, der Bundestrainer ist nun besonders gefordert, um die Köpfe der Spieler frei zu kriegen.
Jogi Löw muss seinen Spielern mit voller Überzeugung verbal und nonverbal vermitteln, dass er an sie und die Chance gegen Italien glaubt. Alles, was früher war, hat mit heute nichts mehr zu tun und darf in den Köpfen keine Rolle spielen. Das muss er mit all seiner Gestik, Mimik und Körperhaltung stets überzeugend deutlich machen und kommunizieren. Für die Spieler muss es Motivation sein, möglicherweise die Generation zu werden, die mit diesen Vorurteilen und dem angesprochenen "Italien-Fluch" aufräumt. Es darf allerdings nicht in Druck und Krampf ausarten - das wäre dann über das Ziel hinausgeschossen. Wichtig ist, zu wissen, dass es in ihrer eigenen Hand liegt, durch ihre Kompetenz, durch ihre Fähigkeiten und Qualitäten, die Italiener zu schlagen. Aber ich persönlich sehe die Deutschen bei diesem Turnier auch als sehr motiviert und selbstbewusst an. Die Frage wird sein, ob dieses junge Team seine Leistung zum richtigen Zeitpunkt voll abrufen kann.
Die Engländer haben ein ähnliches Trauma - das Elfmeterschießen. Einige Spieler wirkten beim Ausscheiden gegen Italien auf dem Weg zum Punkt verunsichert - wie paralysiert...
Absolut. Und da sprechen Sie einen wichtigen Punkt an: Man muss dem Gegner natürlich auf dem Platz durch seine Haltung, Gestik, Mimik und Körpersprache deutlich machen, dass man vollkommen von der eigenen Kompetenz überzeugt ist. Die Angst auf dem Weg zum Punkt sieht man einigen an - und das ist natürlich auch menschlich. Aber es ist wichtig, das man dem Gegner nicht nur mental, sondern auch körperlich mit der richtigen Einstellung entgegentritt. Mentale Stärke ist immer auch emotional und körperlich. Und auf solche Situationen muss ich als Profi natürlich getrimmt und vorbereitet sein. Dann kann ich da auch hingehen und mein Ding machen, mein Potenzial abrufen und mit Leidenschaft alles geben.
Ein Spieler wie Mario Gomez durchschreitet in der medialen Berichterstattung in den letzten Wochen viele Auf's und Ab's - mal ist er "Supermann", dann wieder die Nummer 2 hinter Miroslav Klose. Wie kann man als Spieler mit diesem Druck umgehen?
Als Spieler hat man ja im Prinzip keinen endgültigen Einfluss darauf, was die Medien schreiben. Es ist nicht nur für Mario Gomez, sondern für jeden Spieler wichtig, dass er seinen Selbstwert erhält. Er muss für sich selbst feststellen, was er in der Vergangenheit für hervorragene Leistungen gezeigt hat. Mario Gomez zum Beispiel hat sehr viele wichtige Tore geschossen und dafür ist er als Stürmer auch da. Dann beurteilen ihn auf einmal Leute, die das teilweise vielleicht auch gar nicht können. Die müssen es dann aber medial so darstellen, dass sie damit als Medium wahrgenommen werden.
Als Spieler muss man lernen, diese medialen Aussagen zu relativieren. Ganz allgemein: Er könnte zum Beispiel sagen: "Na ja, die Medien schreiben wenigstens über mich." Und mit er Zeit kann sich ja auch die Berichterstattung wieder hin zum Positiven ändern.
Ein Spieler muss von seiner Person überzeugt sein, seinen eigenen Wert als Mensch behalten und sich nicht nur als "Der Fußballspieler" betrachten. Er darf sein eigenes Leben nicht nur über den Fußball definieren. Und wenn er klug und vernünftig handelt, kann er auch die Berichterstattung - zumindest ein Stück weit - beeinflussen. Dazu benötigt man natürlich ein gewisses Maß an Gelassenheit. Ein Weltklasse-Sportler wird man ja nicht nur, weil man permanent gewinnt, sondern gerade auch, weil man lernt, mit den Niederlagen und Krisen lösungsorientiert umzugehen, daran zu wachsen und in der gesamten Persönlichkeit zu reifen. Nur so kann man selbstbestimmt seinen Beitrag dazu leisten, dass man an dem Druck, der von Außen kommt, zerbricht.
Heißt das im Umkehrschluss, dass nur "starke Charaktere" in der heutigen Welt des professionalisierten Leistungssports bestehen können und der Rest auf der Strecke bleibt?
Diese Frage ist so einfach natürlich nicht zu beantworten, weil diese Frage ein sehr komplexes Themenfeld anspricht. Zum Beispiel müsste man erst einmal definieren, was denn überhaupt ein „starker Charakter“ ist? Aber wenn man es stark vereinfachen möchte, könnte man natürlich davon sprechen, dass: Je mental stärker man ist, und je besser man psychosozial verwurzelt ist, desto leichter fällt es, mit allen Unwägsamkeiten des Lebens umzugehen. Dann fällt es vielleicht auch leichter, wenn man viele Jahre für etwas gelebt hat, es aber am Ende vielleicht doch nicht ganz bis zur absoluten Spitze reicht. Das ist sicherlich etwas, was auch mit persönlicher Reife, einem starken Charakter und einer guten Lebens- bzw. Selbsteinstellung zusammenhängt. Aber wie bereits gesagt, so einfach und pauschal kann man diese komplexe Thematik natürlich nicht beantworten
Abschließend: Geht es im Leistungssport heute noch ohne Psychologen?
Ich möchte es einmal so sagen: Du brauchst im heutigen Leistungssport ein funktionierendes und professionelles Betreuerteam. Dazu gehört der Technik- und Konditionstrainer genauso wie die Mediziner, Physiotherapeuten usw. Die unterschiedlichen Kompetenzen müssen durch eine gute Interaktion miteinander dafür sorgen, dass der Spieler bzw. die Mannschaft am Ende ihre beste Leistung optimal abrufen können. Da reiht sich der professionell ausgebildete und arbeitende Sportpsychologe ohne besonderen Vorrang ein, hat bei den heute herrschenden Anforderungen an Spitzensportler in seinem Kompetenzfeld aber sicherlich eine vergleichbar wichtige Bedeutung wie die anderen Personen im Betreuerteam.
Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang noch zu erwähnen, dass seriös angewandte Sportpsychologie keine „Hauruck- oder Feuerwehr-Maßnahme“ ist, die man mal eben einsetzt, um zum Beispiel im letzten Saisonspiel doch noch den Abstieg zu verhindern. Seriöse Sportpsychologie bedeutet dagegen im optimalen Falle einen längerfristigen Trainingsprozess. Mentale Stärke zum Beispiel kann trainiert werden wie ein Muskel. Und das braucht eben wissenschaftlich begründetes Vorgehen und die dafür erforderliche Zeit.
Mehr Tipps und Ratschläge von Jörg Schönenberg finden Sie auch auf dem Sportexpertenportal www.trainingsworld.com.
Text und Interview: Thomas Deterding
- Themen:
- Joachim Löw
- Mario Gómez
- Miroslav Klose