EM-Finale in London: Das Woodstock des Fußballs
Und dann griff der bärtige Barde noch einmal in die Saiten, spät am Abend auf dem Wembley Park Boulevard. Heiser von den vielen Liedern eines langen Tages krächzte der Straßengitarrist ein letztes Mal den Song von "Sweet Caroline" hinaus.
Von irgendwoher aus den Hochhausfluchten der nach der Party fast wieder menschenleeren Flaniermeile erschallte das Echo weniger Stimmen, hörbar berauscht von einem Sieg und vielen Getränken, zurück: Oh-oh-oh. Der akustische Absacker eines so heiteren, wunderschön einzigartigen Fußballfesttages.
Schon in der Früh um neun, acht Stunden vor Anpfiff, strömten die ersten Fans von der Tube Station Wembley Park hoch zum Stadion, verteilten sich in den Fanzonen, in den Läden, Lokalen, auf den Straßen. Die meisten mit englischen Trikots, andere mit deutschen, manche mit Regenbogen-Fahnen. Who cares.
Zwischendrin tanzten schwedische Fans vor der Gelateria "Haute Dolci", schleckten einige Menschen mit roten Bayern-Shirts mit zwei Burschen im Liverpool-Leiberl ein Eis. Sogar einen einsamen Typen im HSV-Trikot nahmen sie barmherzig in ihre Mitte.

Schwarzmarkt-Tickets gab es für 1.000 Pfund
Alle machten Party, Peace, Love & Football. Immer mehr hatte sich das Land in eine grenzenlose Euphorie gesteigert. Von Spiel zu Spiel kamen immer mehr Enthusiasierte in die Fanmeilen, allein am Trafalgar Square in London feierten am Sonntag 7.000 Menschen vor einer Großleinwand. Ticketpreise für das Endspiel erreichten auf dem Schwarzmarkt Fantasiesummen, für Karten zum Originalpreis von 50 Pfund wurden 1.000 aufgerufen - und bezahlt.
Auch die Hoffnung auf ein Zimmer im Stadion war schnell dahin, EM-Sponsor booking.com hatte eine der Logen in ein Apartment im Spielfeld-Design umgerüstet, zu buchen für eine Übernachtung von Samstag auf den Finaltag samt Ticket. Für schlappe 20,22 Euro. Nach wenigen Sekunden online war das Quartier schon vergriffen.
Gute Stimmung an allen Ecken und Enden
Im Stadion herrschte wie in den Stunden draußen davor eine Stimmung, als sei der Fußball eine Erfindung im Geist der Achtundsechziger. Frei von Hass und Aggression und jeglichem Gschwerl auf den Tribünen, frei vom sonst bei Männer-Kicks üblichen dumpfem Geplärre und testosterongeschwängertem Herumgepöbel stumpfsinniger Schwarzkapuzen, stattdessen Verbrüderung und Verschwesterung. Happy Wembley, das Woodstock des Fußballs.
Welch ein Kontrast zum ersten Besuch hier, während eines London-Urlaubs als Teenager im Mai 1986. Damals noch im alten Stadion mit den Zwillingstürmen, ein Jahr nach Heysel. Chelsea und Manchester City spielten das Finale des erstmals ausgetragenen Full Members Cup, ein sinnbefreiter Pokal, den sich die FA nach dem Bann der englischen Klubs in Europa als Ergänzung des Spielbetriebs einfallen ließ.

Chelsea gewann nach 90 Minuten 5:4, nach Abpfiff knüppelte die berittene Polizei vor dem Stadion mit Schlagstöcken in die Hundertschaften sich prügelnder Fans. Auf der Rückfahrt in die Innenstadt marodierten City-Anhänger in der U-Bahn, vandalisierte der Mob aus Manchester mit kaum vorstellbarer Zerstörungskraft und zerlegte das Abteil in seine Bestandteile.
Ein paar Meter weiter sieht es eher trist aus
Es war die dunkle Zeit der Achtziger, als nicht nur der von Hooligans durchseuchte englische Fußball am Boden lag, sondern im Britannien von Maggie Thatcher die Gesellschaft. 1986 war auch das Jahr, in dem Jimmy Sommerville mit seinen Communards in seiner Ballade von der "Breadline Britain" sang. Die Brotlinie, so nennen sie in England die Menschen, die in einer Schlange an der Tafel für kostenloses Essen anstehen. "Das Volk wird hungrig, das Volk wird arm", hieß es, "in diesem freien Land und gelobten Land".

Dass diese Zeilen heute so aktuell sind wie damals, sah man, wenn man die Heile-Welt-Kulisse um den Wembley Park Boulevard verließ und nur wenige hundert Meter weiter eintauchte. In die trostlosen Straßen rund um die Wembley Hill Road. An den meisten Geschäften und Lokalen heruntergelassene Rollläden, kaputte Fensterscheiben, ob am "California Kitchen", am Schönheitssalon "House of Beauty", ob bei "Aunty Jenny's Carribean Food". Die Realität in Wembley sieht trist aus, die Jahre unter den Premiers Cameron, May und dem wirren Boris Johnson haben Spuren hinterlassen. Natürlich ist auch der Ausstieg aus der EU hier angekommen. Viele Briten haben den Brexit Blues, die Brotlinie wird immer länger.
Trotz EM-Sieg: England stehen düstere Zeiten bevor
Auch die Perspektiven hier machen wenig Hoffnung. Liz Truss, die als Favoritin auf die Nachfolge des bald abdankenden BoJo gilt, kündigte erzreaktionäre Schritte an, sie will die Streikrechte von Lehrern, Eisenbahnern und Ärzten massiv einschränken, die Gewerkschaften kündigten für diesen Fall bereits einen Generalstreik an. Was zu einer Stimmung und einer Polarisierung im Land führen könnte wie einst bei den Bergarbeiterstreiks vor knapp 40 Jahren. Liz als Maggies Wiederauferstehung.
Dass England einer düsteren Zukunft entgegentaumelt, daran wird auch der EM-Sieg nichts ändern. Und doch, zumindest für die Akzeptanz von Frauen im Fußball, im Sport und auch in einer immer noch von lauten Männern dominierten Berufswelt dürfte dieser Tag ein wichtiger Schritt gewesen sein. Woran all die Linekers, Beckhams und Kanes scheiterten, nach 1966 wieder einen Titel nach England zu holen, glückte nach 56 Jahren nun diesen unbekümmerten jungen Frauen - den Lionesses, den Löwinnen.
Ein wichtiger Tag für den britischen Sport
Kurz vor halb elf, am Ende der allabendlichen "News at Ten" schaltete BBC noch einmal auf den Olympic Way nach Wembley. Sportreporter Dan Roan stand vor dem Stadion mit seinem hell in Englands Farben weiß und rot erleuchteten Bogen und sagte: "Heute war einer der größten und wichtigsten Tage in der Geschichte des britischen Sports." Auch von Queen Elisabeth II. kamen am Abend noch Glückwünsche.
"Ihr seid eine Inspiration für Mädchen und Frauen von heute, und für künftige Generationen", schrieb die Königin von England an die Königinnen von Europa, nach diesem fröhlichen und glücklichen Tag für die Ewigkeit.
God save the queens.