Das Mainzer Märchen

Fünf Spiele, fünf Siege – und am Samstag wollen sie beim FC Bayern ihren Triumphzug durch die Bundesliga fortsetzen. Die AZ erklärt, was den Sensations-Spitzenreiter der Liga so stark macht.
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Eckfahne als Gitarre, Schuhe als Schlagzeugstöcke, Flasche als Mikro: Der spezielle Torjubel der Mainzer Bubi-Band Andre Schürrle, Adam Szalai und Lewis Holtby (v.l.)
M.i.S./Bernd Feil Eckfahne als Gitarre, Schuhe als Schlagzeugstöcke, Flasche als Mikro: Der spezielle Torjubel der Mainzer Bubi-Band Andre Schürrle, Adam Szalai und Lewis Holtby (v.l.)

Fünf Spiele, fünf Siege – und am Samstag wollen sie beim FC Bayern ihren Triumphzug durch die Bundesliga fortsetzen. Die AZ erklärt, was den Sensations-Spitzenreiter der Liga so stark macht.

MAINZ Nach Siegen ist es beim FSV Mainz 05 der Normalfall: Schals mit weißer Schrift auf rotem Stoff werden geschwenkt, auf denen steht: „Wir singen Humba Humba Humba Täterä!“ Doch nach dem 2:0 im Heimspiel gegen Köln brüllten sie am Bruchweg plötzlich: „Auswärtssieg! Auswärtssieg!“ Ganz Mainz feiert die vorgezogene Fastnacht – und nun will der Bundesliga-Überflieger (5 Spiele, 5 Siege) am Samstag in der Allianz Arena dem FC Bayern Paroli bieten. Trainer Thomas Tuchel sagt: „Die Fans sollen sich das vorstellen, denn meine Jungs müssen sich auch trauen, sich das vorzustellen.“

Das Mainzer Märchen – die AZ nennt die Gründe für den Sensationslauf.

Der Trainer:

Thomas Tuchel, 37. Der Trainer-Novize, im vergangenen Jahr vom A-Juniorencoach zu den Profis befördert, ist der entscheidende Mann des Höhenfluges. Der von Ralf Rangnick geprägte Fußballlehrer (unter ihm spielte Tuchel beim SSV Ulm, ehe ein Knorpelschaden seine Karriere mit 25 beendete) hat eine Wohlfühloase geschaffen, die sich vom Lehrvater Jürgen Klopp längst emanzipiert hat. Jede Trainingseinheit ist akribisch geplant. „Da ist er schlimmer als ein Beamter“, sagt Manager Christian Heidel. Tuchel hat klare Prinzipien. „Bei uns wird niemand mit Nachnamen angesprochen. Bei uns wird niemand beleidigt.“ Regelmäßig setzt Tuchel Geheimtrainings an, Spielzüge und Laufwege werden einstudiert und gefilmt, für jede Partie wird ein Matchplan entworfen. Der Erfolg: Seit 171 Tagen ist seine Mannschaft ungeschlagen, saisonübergreifend seit zehn Spielen.

Der Manager:

Christian Heidel, 47. Der gelernte Bankkaufmann ist seit 18 Jahren in der Verantwortung. „Wenn mir vor zehn Jahren einer gesagt hätte, dass wir nach fünf Spieltagen Tabellenführer der Bundesliga sind, hätte ich ihn für verrückt geklärt.“ Und: „Es ist alles momentan so wie in einem Kinofilm.“ Bis vor wenigen Jahren führte Heidel seinen Fußball-Job als Nebenberuf aus, denn er war in Mainz als gewiefter Autohändler genauso bekannt. Längst gilt er als einer der geschicktesten Strippenzieher der Branche. Und guter Einkäufer. Talentierte Spieler leiht er sehr gerne aus (Lewis Holtby, Marcel Risse). Eigentlich ist er ein noch besserer Verkäufer: Für Manuel Friedrich, Mohamed Zidan, Neven Subotic und Aristide Bancé nahm Mainz fast 20 Millionen ein, für André Schürrle zahlt Bayer Leverkusen nächsten Sommer mit Zuschlägen mehr als zehn Millionen.

Die Stars:

Das Kollektiv macht in Mainz die Musik. Und doch ragen zwei Spieler heraus: Lewis Holtby, 20, Leihgabe aus Schalke und Doppeltorschütze gegen Köln, und André Schürrle, 19, der Tempodribbler und Dauerläufer, dreimal als Einwechselspieler erfolgreich. Heidel und Tuchel sind überzeugt davon, dass das in Ludwigshafen entdeckte Eigengewächs in den Spuren von WM-Torschützenkönig Thomas Müller wandeln kann. Tuchel: „Müller ist absolute Weltklasse. Schürrle kann denselben Weg gehen. Das Potenzial und den Charakter hat er.“ Zusammen war das Duo Holtby-Schürrle an neun der zwölf Mainzer Toren beteiligt. Sehenswert ist der Torjubel der jungen Blonden: Schürrle eilt zur Eckfahne und mimt den Gitarristen, Holtby spielt den Sänger. Auch am Samstag?

Die Philosophie:

Das Konstrukt fußt auf fast idealistischen Grundwerten: Vertrauen, Anerkennung und Respekt. Bei der Begrüßung müssen sich die Spieler in die Augen schauen – der Trainer selbst spricht dafür mit seinen wichtigsten Profis die taktische Ausrichtung ab. „Ich möchte nicht, dass meine Spieler nicht einer Idee hinterherhecheln, mit der sie sich gar nicht identifizieren.“ In dieser englischen Woche rotierte der Tüfteler Tuchel beim Personal mehr als Ottmar Hitzfeld zu seiner besten Zeit in München. Wichtig nur: Vorgaben müssen akribisch eingehalten werden. Laufbereitschaft und Leidenschaft, Vorwärtsverteidigung und Ballbesitz werden kultiviert. Mainz spielt das Gegenteil von Mauerfußball. Beim 2:0 gegen Köln begeisterte den Trainer sogar die erste torlose erste Halbzeit mehr als die zweite: „Das war das Beste, seit ich hier Trainer bin. So können wir auch in der Premier League mitspielen.“ Ist Mainz schon zu gut für die Bundesliga?

Das Image:

Noch immer verkauft sich der Klub als Karnevalsverein. Dieser Ruf wird gehegt und gepflegt – die Stimmungslieder („Wir sind nur ein Karnevalsverein“) werden vor jeder Bundesligapartie vom Publikum gesungen. Sommer wie Winter. Ein Symbol dafür, dass Bundesliga Spaß machen soll. Zur nächsten Saison ist eine neue Arena am Mainzer Europakreisel mit 35000 Plätzen fertig. Nach Auskunft von Heidel wird aus dem „Kleinwagen“ dann ein „Mittelklasseauto“. Mainz will statt zu den besten 25 dann zu den besten Vereinen in Deutschland zählen. Das verrät: Mainz bleibt Mainz, nämlich bescheiden. Und doch freut man sich diebisch auf die Bayern. „Das wird das schönste Spiel der letzten zehn Jahre“, glaubt Präsident Harald Strutz.

Frank Hellmann

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