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AZ-Serie zur WM – Die Fußball-Weltmeisterschaft 2014: "Weltmeister samma"

Campo de Bahia, das 7:1 gegen Gastgeber Brasilien, Motzki Per Mertesacker in der Eistonne und ein Thomas Müller, der im Moment des Triumphes nur noch bayerisch parliert – das war die WM 2014!
| Florian Kinast
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Die Erlösung nach 24 scheinbar ewigen Jahren des Wartens auf den vierten Stern: Die Generation um DFB-Kapitän Philipp Lahm feiert den Triumph von Rio de Janeiro.
Die Erlösung nach 24 scheinbar ewigen Jahren des Wartens auf den vierten Stern: Die Generation um DFB-Kapitän Philipp Lahm feiert den Triumph von Rio de Janeiro. © dpa/Andreas Gebert

Am Sonntag ist es soweit, dann wird es im Wüstenstaat Katar erstmals in der Geschichte eine Winter-Fußball-WM geben. Zeit für einen Blick zurück auf die deutsche WM-Herrlichkeit mit seinen bisher vier WM-Titeln.

AZ-Reporter Florian Kinast, der gerade das Buch "Die Könige der Welt - die Geschichte der Fußballweltmeisterschaften von 1930 bis heute" veröffentlicht hat, nimmt sich dieser historischen Momente in der neuen AZ-Serie an. Heute der vierte und letzte Teil: der Triumph bei der WM 2014 in Brasilien.

Sete a um, Sieben zu eins. Ein Begriff, der zu einem geflügelten Wort wurde in Brasilien, als Inbegriff dafür, wenn etwas schief läuft. Der Autor Sergio Xavier schrieb ein Jahr nach dem historischen Debakel im WM-Halbfinale: "Es wurde Synonym für Inkompetenz, Arroganz und Ignoranz."

Wie Brasiliens größte Schmach zum geflügelten Wort wurde

Als sich Brasiliens Staatschef Bolsonaro trotz der rasanten Ausbreitung des Corona-Virus im April 2020 strikten Maßnahmen verweigerte und die Pandemie verharmlosend klein redete, schimpfte Ex-Präsident Lula da Silva: "Bolsonaro geht in dieses Spiel genauso wie Felipäo ins 1:7 gegen Deutschland. Er wettet hoch, um dann zu sehen, dass es so nicht funktioniert." Mit Felipäo meinte Lula den damaligen Trainer der Seleçao. Luiz Felipe Scolari.

Auch im Alltag ist es gebräuchlich, fällt das Geschirr auf den Boden, springt das Auto nicht an, geht das Internet nicht, sagen sie gerne "Tor für Deutschland". Und wenn man gleich einen ganz schlechten Lauf hat, sich ein Malheur an die nächste Panne reiht, heißt es: "Jeden Tag ein 7:1." Sete a um. Gesprochen, damit man mitreden kann: Sätschi-um. Auf Deutsch übersetzt so etwas wie Murhphy's Law.

Schmach, Schande und vor allem Fassungslosigkeit: Der Schock der 1:7-Pleite gegen Deutschland hat Brasilien immer noch fest im Griff.
Schmach, Schande und vor allem Fassungslosigkeit: Der Schock der 1:7-Pleite gegen Deutschland hat Brasilien immer noch fest im Griff. © dpa

Dabei standen die Vorzeichen für ein erfolgreiches Turnier denkbar schlecht: Nie zuvor hatte eine deutsche Mannschaft so viele verletzte und angeschlagene Spieler zu verkraften wie vor dieser WM.

WM 2014: Die Vorzeichen standen denkbar schlecht

Und dann auch noch die Schlagzeilen. Die "Bild" nannte das Trainingslager im Passeiertal nördlich von Meran "Jogis Chaos-Camp". Nicht nur wegen des sanatoriumsreifen Krankenstands. Es ging auch um die Pinkelaffäre um den Dortmunder Kevin Großkreutz, der nach dem Pokalfinale in Berlin in der Hotellobby an eine Säule uriniert hatte. Es ging um Joachim Löw, der wegen überhöhter Geschwindigkeit samt Handy am Steuer seinen Führerschein verlor.

Zu lesen stand eine Gesamtbilanz von 18 Punkten, eine Ausbeute, die in der Bundesliga zwar bei weitem nicht zum Klassenerhalt reicht, aber problemlos in Flensburg, um ein halbes Jahr den Lappen los zu sein.

Und dann war ja noch der tragische Zwischenfall bei einem PR-Termin, als die Rennfahrer Nico Rosberg und Pascal Wehrlein mit den Nationalkickern Draxler und Höwedes für Werbeaufnahmen in schnittigen Sportwagen des DFB-Sponsors auf einer abgesperrten Bergstraße unterwegs waren. Wehrlein erfasste mit seinem Auto am Straßenrand einen Urlauber aus Thüringen und einen Streckenposten, beide Männer kamen verletzt ins Krankenhaus. Oliver Bierhoff erklärte einen Tag später, man müsse den Sinn solcher Aktionen künftig überdenken.

Alles zusammen schien das keine Grundlage für wirklich gelöste Stimmung und eine unbeschwerte WM.

Das Campo de Bahia wurde zum Schlüssel zum Erfolg

Ein Schlüssel zum Erfolg wurde das Mannschaftsquartier, das Campo de Bahia. Per Mertesacker sagte einmal in der "Welt", gerade diese Querungen über den Fluss hätten vom ersten Moment an eine besondere Wirkung entfaltet. Dass man sich schon einmal bewusst entschieden hatte, gleich für den ersten Eindruck bei Tageslicht anzukommen und nicht mitten in der Nacht. "Die Spieler sollten mitbekommen, wohin die Reise geht", meinte der Innenverteidiger in der Rückschau. "Die Fahrt mit der Fähre war danach immer besonders. Wenn es zurück ins ,Campo' ging, war klar, dass die Arbeit beendet ist. Umgekehrt wusste man, dass jetzt wieder eine wichtige Aufgabe ansteht."

Und noch mal Mertesacker: Boris Büchler stand nach dem Achtelfinale gegen Algerien in den Katakomben des Estadio Beira-Rio von Porto Alegre am Mikro, er fragte, was das Spiel so anfällig und schwerfällig gemacht habe, als die Replik des Abwehrmanns vom FC Arsenal bereits erste Tendenzen der Tonalität für den weiteren Verlauf des Gesprächs erahnen ließ. "Is mir völlig wurscht", murrte der Big Fucking German, so nannten ihn die Fans in London voll Hochachtung, "wir sind unter den letzten Acht und das zählt."

Wort gehalten: Per Mertesacker in der berühmten Eistonne.
Wort gehalten: Per Mertesacker in der berühmten Eistonne. © dpa

Reporter Büchler entgegnete mit Anmerkungen zum schwachen Niveau und zum Steigerungspotenzial, als Mertesacker entgegenraunte, als würde er sich gerne zu einer Prügelei auf dem Stadionparkplatz verabreden: "Was wollnse von mir, was wollnse? So kurz nachm Spiel. Kann ich nicht verstehen." Und legte bald nach: "Glauben Sie, unter den letzten 16 ist ne Karnevalstruppe oder was?"

Es folgte Lob für seine Mannschaft, dann der berühmte Satz: "Ich lege mich erst mal drei Tage in die Eistonne." Und später noch mal: "Was wollnse, wollen Sie ne erfolgreiche WM oder sollen wir wieder ausscheiden?"

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In der "Zeit" erzählte Mertesacker ein knappes halbes Jahr später, er sei in diesem Moment tatsächlich völlig in Rage gewesen über die Fragen. "Ich war total angefressen von ihm", sagte er. "Als wir aus dem Bild waren, habe ich die DFB-Pressesprecher angebrüllt: ‚Unfassbar, was der Kerl sich erlaubt. Unfassbar!'."

Per Mertesacker geht mit Eistonnen-Interview in die Geschichte ein

Als das Interview bereits auf der Heimfahrt Richtung Campo Bahia viral durch die Netzwelt ging, bekam Mertesacker flapsige Kommentare seiner Mitspieler, im Sinne von: "Was wollnse, Karnevalstruppe, Eistonne." Gleichzeitig aber auch Glückwünsche: "Super Interview, Per, Du gehst in die Geschichte ein."

Einer habe gesagt: "Hast dich nicht einschüchtern lassen! Wir sind ein Team, wir wollen weiterkommen - nur das zählt." Tags darauf setzte sich Mertesacker in eine Eistonne, ließ sich fotografieren und lud das Bild auf Twitter hoch.

Bastian Schweinsteiger, der die letzten Minuten des Endspiels angeschlagen über den Platz humpelte und von einer Platzwunde gezeichnet zum Inbegriff des Stehaufmännchens wurde, meinte, das gehöre dazu, sich so reinzuhauen.

Der blutige Cut machte Bastian Schweinsteiger zum Helden.
Der blutige Cut machte Bastian Schweinsteiger zum Helden. © dpa

Später nahm er Thomas Müller in den Arm und empfahl einer kolumbianischen Reporterin: "You have to speak in Bavarian now." Die Journalisten spoke dann doch in English und fragte Müller, wie es denn nun sei, diesmal nicht Torschützenkönig geworden zu sein, um dann zu erfahren, was Schweinsteiger mit seinem Sprachtipp gemeint hatte.

"Des interessiert mich ois ned, der Scheißdreck", polterte Müller in rustikalem Kreisklassen-Jargon, als habe er gerade mit dem TSV Pähl den Ammersee-Bezirkspokal gewonnen. "Weltmeister samma. Den Pot hamma! Den scheiß goldnen Schuah kannst dir hinter d'Ohren schmiern." Dann verschwand er.

Am nächsten Tag waren sie alle beisammen, auf der Fanmeile in Berlin feierten sie mit einer halben Million Menschen vor dem Brandenburger Tor - den WM-Titel einer DFB-Auswahl, den vierten und bislang letzten.


Das Buch "Könige der Welt" von AZ-Reporter Florian Kinast ist im dtv-Verlag erschienen, 489 Seiten, 16 Euro

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