Thomas Müller in Kanada: Vom "Unknown Superstar" zum Publikumsliebling
Es ist Herbst geworden in British Columbia. Der Indian Summer zeigt sich im Stanley Park an der Küste Vancouvers von seiner schönsten Seite. Orange Ahornblätter an den Bäumen, dazu glasklares Wasser. Instagramreif. Allerdings wird auch der kanadische Lieblingswitz von Thomas Müller im Oktober immer mehr zur Realität. Die Regenschirme brauchen hier an den meisten Tagen selber wirklich Regenschirme. Sonst weichen sie irgendwann durch.
Einwohner von Vancouver erkennen Müller nicht
Doch Raincouver, wie die Stadt im Westen Kanadas noch genannt wird, hat seit zwei Monaten noch viel mehr zu bieten. Mehr als das für die kanadische Ostküste so typische Herbstwetter und diesen Mix aus modernen Hochhäusern und viktorianischen Gebäuden. Sie hat Müller, Deutschlands erfolgreichsten Fußballer mit 35 Titeln und den Rekordspieler des FC Bayern. Der Witz dabei: Die Sehenswürdigkeit, den laut Whitecaps-CEO Axel Schuster "größten Star, den Vancouver je hatte", kennt in der Metropolregion mit ihren über 2,6 Millionen Einwohnern scheinbar noch nicht jeder. Thomas Müller in Vancouver – hier ist er tatsächlich the unknown Superstar.
Davon hat sich die AZ zwei Wochen vor Beginn der Playoffs, die Whitecaps müssen in Runde eins gegen den FC Dallas (Montag, 0.30 Uhr MESZ) ran, vor Ort selbst ein Bild gemacht. "Wer ist dieser Mann auf dem Foto?", sagt ein Passant. Zugegeben, es wurde den Vancouverites, so nennt man die Einwohner der drittgrößten Stadt Kanadas, vom AZ-Reporter nicht einfach gemacht. Das Bild ist ein Screenshot aus dem Clip, der den Müller-Wechsel zu den Whitecaps ankündigte. Der 36-Jährige ist darauf noch bartlos und trägt einen Cowboyhut. Klar, dass da ein anderer mutmaßt: "Er ist bestimmt ein Cowboy." Fast. Ein Dritter tippt auf Musiker.

"Der Fußball wird in der Stadt wichtiger"
Erst ein älterer Herr, er hat für den Blick aufs Foto extra den Regenhut abgenommen, scheint zu wissen, welche Legende abgedruckt ist. "Ja, ich kenne ihn", sagt er selbstsicher. Na endlich. "Er ist Filmstar, wie heißt er denn gleich?" Als er die Auflösung hört, kann er es als Fan von Manchester United gar nicht glauben, dass es sich wirklich um Müller handelt. "Der Fußball wird in der Stadt wichtiger", meint er. Dank Müller.
Soccer, wie man das Spiel hierzulande nennt, schleicht sich langsam aus dem Schattendasein von Eishockey – der Sportart Nummer eins in Kanada. Zwar erkennen die Einwohner ihren neuen Superstar ohne Whitecaps-Trikot (noch) nicht, doch der Ur-Bayer ist seit seiner Ankunft im August in aller Munde. Es vergeht kaum ein Tag ohne Müller-Geschichte in den hiesigen Medien. In Pubs organisieren Fans bei Spielen Public Viewings. Fußball läuft nun auf der großen Leinwand, nicht auf irgendeinem kleinen TV-Gerät in der Ecke.
Southsiders-Präsident ist gegen die Verpflichtung von großen Namen
An Heimspieltagen pilgern mehr Leute denn je ins Stadion. Der Unterrang des BC Place Stadiums, eine 55.000-Zuschauer-Arena, in der auch American Football und sogar Cricket gespielt wird, ist seit August regelmäßig gut gefüllt. Für die Playoffs wurde sogar der Oberrang aufgemacht. "Durch Thomas wurde die Stimmung im Stadion besser", erzählt Müllers deutscher Teamkollege Sebastian Schonlau. Dafür zuständig: Die Southsiders, der bekannteste Whitecaps-Fanklub. Seit August steigen die Mitgliederzahlen stark an. Beim Debüt hatten sie Müller mit zwei riesigen Bannern begrüßt.
"Willkommen Raumdeuter", stand drauf. Zwei Nächte hat es gedauert, bis alles fertig war, sagt deren Präsident Peter Czimmermann. Angeblich war er der einzige Anhänger, der nicht direkt auf den Hype um den ehemaligen Bayern-Spieler aufgesprungen ist. "Ich mag Verpflichtungen von großen Namen nicht wirklich, weil sie in der Regel die Balance eines Teams zerstören", sagt Czimmermann.

Schonlau: "Müller hat hier unfassbare Laufwerte"
Doch Müller bewies dem Fan-Präsidenten schnell das Gegenteil. "Es war absolut richtig, ihn zu verpflichten", sagt er jetzt. Müller mache die Mitspieler besser, hat ihnen das bayerische Siegergen, das "Mia san mia" eingeimpft. "Jede kleine Spielform im Training ist nun wie das WM-Finale", beschreibt Schuster die Veränderungen unter Müller. Der Bayer dirigiert seine Teamkollegen in den Einheiten und führt mit ihnen Einzelgespräche.
Für seinen Trainer Jesper Sørensen ist er wie ein weiterer Co-Trainer. Beide tauschen sich viel aus. Der Däne ernannte Müller sogar auf Anhieb zum Vize-Kapitän hinter Ryan Gauld. "Es wäre unnatürlich für ihn, wenn er bei uns kein Führungsspieler wäre", begründet Sørensen seine Wahl. Ein Führungsspieler, der sich auch außerhalb des Platzes schnell ins Team integriert hat. Mal geht er mit Sebastian Berhalter in die Eishockeyhalle der Vancouver Canucks, mal genießt er mit Schonlau ein Abendessen in einem der zahlreichen Restaurants im hippen Stadtteil Yaletown.
Müller probiert sich derzeit durch die Restaurants in Yaletown
Ein Stammlokal hat Müller, der grundsätzlich nicht so der "Lieblingstyp" ist, wie er sagt, noch nicht. "Gerade in der Anfangszeit versuchen wir uns überall ein bisschen durchzufuttern, um die besten Lokale rauszufinden", sagt Schonlau, der wenige Tage nach ihm zu den Whitecaps wechselte. Die beiden haben dafür noch bis Ende 2026 Zeit. So lange wird Müller mindestens in Vancouver spielen.
Gerade in der Anfangszeit versuchen wir uns überall ein bisschen durchzufuttern, um die besten Lokale rauszufinden.
Die Whitecaps haben ihm extra ein Apartment in einem der luxuriösen Hochhäuser organisiert. Schon vor der Ankunft war die Wohnung bezugsfertig. "Er musste nicht eine Nacht im Hotel schlafen", ist Schuster stolz. Zusätzlich bekam er ein Auto vom Klub gestellt. Dem neuen Star der Stadt soll es an nichts fehlen. Auch nicht an Golfplätzen. Obwohl die in der Regel ausgebucht sind – wenn Müller anruft, wird ein Platz freigemacht. Der gebürtige Weilheimer ist überall willkommen.
Müller geht in seiner Freizeit gerne an der Marina spazieren
Und nutzt das auch. Müller hat in Vancouver ungekannte Freiheiten. Er unternimmt in seiner Freizeit viel in der Stadt. In München undenkbar. Aber hier in Vancouver wird er bislang nur selten erkannt. Noch! "Es ist vom Privatleben her schon ein bisschen angenehmer", sagt er – und klingt dabei ganz relaxed. Fischen war Müller schon, auch hat er den Strand mit seinen zahlreichen Beachvolleyballfeldern ausfindig gemacht. Gut möglich, dass man ihn dort nächsten Sommer beim Pritschen sieht. Müller mag den Flair. Gern flaniert er auch an der Marina, einem Weg direkt am Hafen mit Blick auf die Berge.
Einen Ausflug dorthin hat er allerdings bisher noch nicht geschafft. Müller ist ja nicht zum Urlaub machen nach Vancouver gezogen, sondern fürs Fußballspielen. Fast täglich ist er am Trainingsgelände, das rund 25 Minuten Autofahrzeit außerhalb der Downtown liegt. Direkt neben der University of British Columbia haben die Whitecaps in einem unscheinbaren Holzbau ihr Hauptquartier. Es ist dort alles etwas kleiner, nicht mit dem Bayern-Areal an der Säbener Straße zu vergleichen.
Alle Mannschaften der Whitecaps haben eine gemeinsame Kantine
Direkt vom Eingangsbereich schaut man ins Trikotlager. Dahinter ist schon das Fitnessstudio und ein Raum für Pressekonferenzen. Im Obergeschoss hat der Verein eine Mensa. Hier können alle Teams der Whitecaps mit Blick auf den Trainingsplatz essen. Oder im angrenzenden Aufenthaltsraum Kicker und Tischtennis spielen. Eine Anlage, wie sie ähnlich beim TSV Pähl, Müllers Heimatklub, stehen könnte.
Der Slogan "It takes a village" (Deutsch: Es braucht ein Dorf), der an den Wänden klebt, scheint Programm. Doch spätestens der Blick ins Trainerbüro verrät: Hier wird mit hochmoderner Technik akribisch am Gewinn der MLS gearbeitet. Spiel- und Laufdaten werden an den Computern ausgewertet. Überall liegen Blätter mit Taktikanalysen und Graphen. Man will, wie beim FC Bayern, nichts dem Zufall überlassen.
Whitecaps-Coach Sørensen: "Was wir tun, ist für uns das Wichtigste der Welt"
Bei Trainingseinheiten ist nahezu der ganze Stuff mit auf dem Platz. Jede Szene wird genau beobachtet. "Was wir tun, ist für uns das Wichtigste der Welt", bekräftig Sørensen. Die Whitecaps haben zwei Videoanalysten, zwei Scouts und zwei Co-Trainer. Und einen Müller, der mit guten Leistungen vorangeht. Sieben Tore und drei Assists in sieben Ligaspielen. Dazu gehört er mit seinen 36 Jahren zu den Spielern mit der besten Laufleistung. "Er ist sich nicht zu schade, Extrameter zu machen", schwärmt Schonlau.
Müller lebt in Kanada das Sportlerleben, das er aus seiner Zeit in München gewohnt war. Er hat feste Routinen, bleibt oft länger am Trainingsgelände. "Du musst in dem Alter schon schauen, dass du deine sieben Sachen beieinander hast", sagt er. 90 Minuten Profifußball, so Müller, "brauchen schon auch Körperpflege". Und natürlich genügend Schlaf. Sein Wecker klingelt um 7 Uhr, um spätestens 23 Uhr will er im Bett sein.
Du musst in dem Alter schon schauen, dass du deine sieben Sachen beieinander hast
Leben mit Zeitunterschied stellt Müller vor Herausforderungen
Das heißt: Es bleibt wegen den neun Stunden Zeitunterschied nur wenig Zeit, um mit der Familie und Freunden zu telefonieren. Kommt Müller am Nachmittag vom Training heim, gehen seine Liebsten in Deutschland schon wieder schlafen. Zeit für ausgiebige Telefonate hat er oft nur vor Spielen und an trainingsfreien Tagen. Für jemanden, der es sein Leben lang gewohnt war, die Familie um sich herum zu haben, eine Umstellung.
Nur menschlich, dass sich da selbst der erfolgreichste deutsche Fußballer in bestimmten Momenten einsam fühlt. "Manchmal schon ein bisschen", sagt Müller. Das kann selbst die Zuneigung der Vancouverites nicht ändern. Nach den Playoffs, das kann er jetzt schon sagen, wird er für mehrere Wochen zurück nach Bayern fliegen. Heimaturlaub. Am liebsten als Gewinner der MLS. Es soll schon in Spiel eins gegen den FC Dallas im BC Place Stadium wieder müllern.

"Müller ist besser als Bier"
Oder auf Englisch: "It´s Müller-Time." Wobei die Whitecaps-Fans das nie in den Mund nehmen würden. Erinnert sie das in der Aussprache zu sehr an eine Bierwerbung der Marke "Miller Lite". "Müller ist besser als Bier", sagt Czimmermann und lacht. Da nennen sie ihn lieber Raumdeuter. Oder grölen den Müller-Fangesang, der extra für ihn gedichtet wurde. Inspirieren ließen sie sich dabei vom Song der bayerischen Künstler "Los Brudalos" und "Anja Bavaria".
Der läuft mittlerweile auch über die Stadionboxen bei nahezu jedem Heimspiel der Whitecaps. Einzig Fans in Müller-Trikots findet man bisher eher wenige in der Arena. Das hat einen einfachen Grund. Seinem Klub sind die Jerseys ausgegangen. Im Fan-Shop in der Innenstadt hängen nur noch wenige Torwart-Trikots. Erst in den nächsten Wochen wird Nachschub erwartet.

Whitecaps wollen Müller-Trikots in diesem Jahr noch verkaufen
"Wir wollen es auf jeden Fall fürs Weihnachtsgeschäft haben", meint Schuster. Um der Nachfrage an Müller-Merchandise-Produkten vorübergehend gerecht zu werden, hat der Verein Shirts und Schals drucken lassen. Dass sich bei den Whitecaps seit Monaten fast alles nur um Müller dreht, stört seine Teamkollegen übrigens nicht. "Für uns als Mitspieler ist es total positiv, dass wir durch ihn mehr in den Fokus rücken", meint Schonlau.
Zum Problem hätte es nur werden können, wenn sich Müller selbst über den Verein stellt. Das macht der Knipser aber natürlich nicht. "Er lässt es sich nicht raushängen, dass er Weltmeister und zigmal Meister wurde", erzählt der ehemalige HSV-Profi Schonlau. Stattdessen gibt es Müller-Witze auf die Ohren. Auch wenn die anfangs noch etwas holprig rüberkamen. "Aber wenn man Thomas kennt, weiß man, dass er sich davon nicht aufhalten lässt."
Er lässt es sich nicht raushängen, dass er Weltmeister und zigmal Meister wurde
Müller spart auch in Vancouver nicht mit Witzen
Er "erzählt lieber einen Witz mehr als weniger". So kennt man den berühmten Radio-Müller. Aber nicht nur in Sachen Humor gibt es von ihm einiges zu lernen. Auf dem Weg zum Titel, es wäre der erste MLS-Sieg in der Vereinsgeschichte der Whitecaps, braucht es Durchhaltevermögen und Willen. "Gerade diesen ewigen Glauben kann man sich auf jeden Fall von ihm abschauen", betont Schonlau. Müllers "unglaubliche Lockerheit auf dem Platz, egal ob es läuft oder nicht", fasziniert ihn.
Klar, wer mit den Bayern zweimal das Triple gewinnt und im Finale von Rio den vierten Stern holt, den bringt nichts so leicht aus der Fassung. Auch keine Playoffs in der amerikanischen Liga. "Ich bin hier, um die MLS zu gewinnen", sagt Müller. Gelingt das, würden die Whitecaps wohl endgültig aus dem Schatten hervortreten. Und Müllers Zeit als "The unknown Superstar" in Raincouver wäre dann wohl auch vorbei.
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