Psychologe rät: "Lasst euch erst mal gehen!"

Was tun nach dem Drama? Der Psychologe empfiehlt den Fans erst mal Abstand vom Fußball, den Spielern Trauerarbeit – und möglichst bald einen Titel.
Interview: Thomas Becker |
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AZ: Herr Weidner, die Bayern-Fans sind am Boden zerstört? Wie geht man nun mit seinem Fußball-Frust um?

JENS WEIDNER: Ich empfehle: Geh’ zur Arbeit! Genieß’ das Wetter! Mach’ Sport! Schalt’ nicht den Fernseher an, wenn Fußball läuft! Schau’ am Dienstag auf keinen Fall das Bayern-Spiel gegen Holland! Und freu’ dich auf die EM! Neues Spiel, neues Glück. Fußball ist ein Spiel.

Zunächst mal weg vom Sport: Wie geht man generell mit großen Enttäuschungen um?

Ich setze sie zunächst in Relation: Beeinträchtigen sie die meine Grundsäulen Gesundheit, Familie, Freundeskreis, Arbeit? Ist dieser Halt, dieses Familienkorsett nicht vorhanden, wird's ganz schwierig. Dann macht man Coaching, lässt sich beraten, wenn man klug ist. Es gibt Lebenslagen, die sind so schwierig, dass man nicht so borniert sein sollte, sie allein lösen zu wollen. Eine kleine, aber wichtige Regel: Wenn du nicht mehr weiter weißt: Frag' einen, der Ahnung hat!

Besonders hart war und ist es für Bastian Schweinsteiger.

Bei ihm wie bei allen Elfmeterversagern besteht als Erstreaktion die Gefahr von Auto-Aggression: Selbstzweifel, Stimmungsschwankungen. Das kann theoretisch bis zur Depressivität führen - wird es aber nicht, weil die Bayern-Profis gelernt haben, mit großen Gefühlen umzugehen.

Wie kann man helfen?

Bei Auto-Aggression hilft kein Trost. Es macht auch keinen Sinn zu sagen: 'Das ist schon Anderen passiert.' Da muss man einfach durch. Was hilft, ist, den Fußball in Relation zu setzen zu wirklichen Sorgen, die im Bereich von Krankheit oder Tod lägen. Was Schweinsteiger erlebt, ist ein sportlicher Tod - von dem er sich erholen wird. Man muss Zeit lassen, was schwierig ist mit der EM. Aber Bundestrainer Löw hat ja schon so reagiert: 'Mal sehen, wann ich die zu mir hole'. Kluger Mann. Man muss Trauer erlauben. Das Ganze kann auch in eine gute Richtung gehen, weil im ganzen Bayern-Team der Stachel der Minderwertigkeit sitzt. Das ist auf den ersten Blick negativ, auf den zweiten Blick reagieren Leistungsträger so, dass sie das als künftigen Antrieb nutzen, um über Schmerzgrenzen hinaus zu gehen.

Wie sieht es nun in den Spielern aus?

Was die alle haben, nennt sich Frustrationsaggression: der nicht erfüllte Wunsch nach Größe und Macht, die ja unglaublich greifbar war. Das hängt zusammen mit der Diskrepanz zwischen dem Ideal, das man von sich hat und dem realen Leben: So toll und schön ist man doch nicht. Die Lösung ist das, was Uli Hoeneß andeutete: eine schonungslose Analyse. Die lautet: Wir verlieren zig Mal gegen die jungen Wilden, das Dortmunder Überfallkommando, aber wir verlieren auch gegen das Neun-Mann-Bollwerk mit dem 60er-Jahre-Fußball. Heißt in der Selbstanalyse: Wir sind ein bisschen zu langsam für Dortmund und ein bisschen zu phantasielos für so eine Mauer-Fraktion. Da muss jetzt etwas Innovatives kommen, damit man wieder an sich glaubt. Bei Bayern läuft das meist unter dem Motto: Wir kaufen uns groß.

Folgt eine Trotzreaktion wie 2001, zwei Jahre nach der Niederlage gegen Manchester?

Alles andere würde mich wundern! Der Bayer neigt nicht zur Larmoyanz, die Spieler auch nicht. Und die, die das tun, werden aussortiert.

Was tun, um aus dem Tief heraus zu finden? Hilft weinen?

Tränen helfen da immer. Man muss das nicht öffentlich tun. Aber wenn man einen großen Verlust erlebt hat, hilft Trauer, ist sogar notwendig. Sich ablenken, weggehen, in Monte Carlo Formel 1 schauen - kann man alles machen, ist mal ein Switch in eine andere Welt. Aber wenn man sich die Zeit zur Trauer nicht nimmt, ist das eine psychologisch falsche Entwicklung.

Wie lange dauert die Trauerphase?

Wäre prima, wenn man sich den Sommer dafür Zeit nehmen könnte. Derzeit glauben alle Bayern-Spieler nicht mehr an den EM-Gewinn. Das Glücks-Gen ging flöten und damit der Glaube: 'Das wird schon'. Jetzt helfen zwei Leute: der Optimist Löw und eine Figur wie Mesut Özil. Der wird eine starke Rolle in der Nationalmannschaft bekommen, weil er von diesem Erlebnis nicht geprägt ist, eine herausragende Saison gespielt hat und so zur Leitfigur werden kann. Er würde die Bayern mitziehen, ermutigen, auf neue Gedanken bringen.

Besteht die Gefahr, dass Schweinsteiger an seinem Pfostenschuss zerbricht?

Nein! Man darf das nicht schönreden, muss ihm sagen: 'Wir glauben weiter an dich'.

Wie kann er selbst mit dem Tief umgehen?

Das kann er nur mit einem großen Titel kompensieren: Champions League, EM, WM. Das ist sein Ziel. Das wird er jetzt wollen. Wenn er aus seiner Trance aufwacht, wird er sagen: 'Das Ding hol' ich mir!'

Das Bayern-Drama wird also kein EM-Problem?

Muss es nicht werden. Löw ist ja kein Schönwetter-Trainer, keiner der schon wieder aufruft 'Reißt euch zusammen!'. Das wäre die falsche Botschaft. Sondern: 'Lasst euch erst mal gehen! Da habt ihr ein, zwei Wochen, aber dann wird richtig Gas gegeben. Jetzt kriegt ihr die Chance, die Schmach auszuwetzen - und das schon in sechs Wochen!'

Zur Causa Robben...

Er ist wie Schweinsteiger einer, der Veranwortung übernimmt. Man kann auf ihn einprügeln, aber wenn er keine Verantwortung mehr übernehmen soll, muss man ihm das sagen, und das wird man nicht getan haben. Man prügelt nicht auf die, die Veranwortung übernommen haben, aber auf die, die vorher gewusst haben: 'Ich pack's nicht.' Bei Bayern fehlen Typen wie Effenberg, die richtig scharf drauf gewesen wären.

 

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