Nie mehr aufregen!

Im Moment des Abpfiffs drehte er sich um. Er packte seine Sachen, die Trinkflasche, das Handtuch. Dann stapfte Oliver Kahn zur Mittellinie. In St. Petersburg nahm der Bayern-Kapitän das Ende seiner internationalen Karriere zur Kenntnis und wird nun „zu dem Menschen, der man eigentlich ist“.
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ST. PETERSBURG - Im Moment des Abpfiffs drehte er sich um. Er packte seine Sachen, die Trinkflasche, das Handtuch. Dann stapfte Oliver Kahn zur Mittellinie. In St. Petersburg nahm der Bayern-Kapitän das Ende seiner internationalen Karriere zur Kenntnis und wird nun „zu dem Menschen, der man eigentlich ist“.

Es war Oliver Kahns letzter Gang. Rasch noch mal zum Büffet. Zum Abschluss gab’s Schokolade. Kahn packte sich ein ordentliches Stück Chocolate Brownie auf den Teller und setzte sich noch einmal. Es war sein letztes Bankett. 142 Europapokalspiele, 142 Mal Mitternachtsdinner. Nicht ganz, ab und an sind die Bayern direkt nach dem Spiel in der Nacht zurückgeflogen. Was Kahn stets Freude. Dieses nächtliche Beisammensitzen, eingerahmt von autogrammgierigen Sponsoren und Vips, hatte Kahn nie sonderlich leiden können.

Auch in St. Petersburg, nach der höchsten Niederlage, die er im Bayern-Trikot bei einem Europacupspiel erleben musste, blieb er nicht lange im Festsaal des Hotels Aurora hocken. Eine halbe Stunde neben den Tischnachbarn Marcell Jansen und Physiotherapeut Gerry Hoffmann – das war’s dann. Ein Bier in der Hand, schlenderte Kahn als erster Spieler Richtung Aufzug. Er ist keiner, der nach einer Niederlage viel redet, gar lacht. Andere müssen das Erlebte nacherzählen oder sich mit anderen Themen ablenken, wollen nicht allein sein in der Niederlage.

Die Gedanken in der Zukunft

Kahn mag das – im Triumph wie in den schlimmen Momenten. Der 38-Jährige will allein sein. Ein wenig innere Einkehr, nachdem ihn seine Mitspieler auf dem Rasen des Petrovsky-Stadions allein gelassen hatten. 0:4. Kahn null vier. Den Uefa-Cup, den hatte er als einziger aus dem aktuellen Kader schon mal gewonnen. 1996 war das. 2001 kam die Champions League dazu. Und gestern einer seiner größten Siege.

Doch, für Kahn war es ein Tag, nach dem er sich wie befreit fühlte. „Irgendwann ist man nur noch erleichtert, wenn alles vorbei ist“, sagte er. Als es tatsächlich vorbei war für den internationalen Kahn, im Moment des Abpfiffs, hatte er sich umgedreht, dem Tor zugewandt. Er packte seine Sachen, die Trinkflasche, das Handtuch und stapfte zur Mittellinie. Mit den Gedanken in der Zukunft.

„Ich habe mir über viele Jahre einen Schutzpanzer angeeignet, um all den Belastungen Stand halten zu können. Den brauche ich jetzt nicht mehr, denn das Ende ist absehbar“, sagte er und erklärte: „Das würde jedem so gehen, dass man dann ein bisschen lockerer wird, mehr aus sich herauskommt, die Dinge nicht mehr ganz so verbissen sieht und zu dem Menschen wird, der man eigentlich ist.“

Nur noch Kahn, der Mensch

Da stand er nun, um 0.30 Uhr russischer Zeit, in der Lobby und sollte über seine Gefühle sprechen. Wehmut? „Ach“, rief er seufzend aus und sagte: „Das Schönste überhaupt ist: Ich muss mich nicht mehr aufregen.“ Nicht mehr Kahn, der Torwart sein. Nur noch Kahn, der Mensch. Doch wie verarbeitet ein von seiner Leidenschaft Besessener diesen Wechsel? „Es wird noch gewisse Zeit dauern“, sagte Kahn, „wenn man 20 Jahre diese Schlachten geschlagen hat, ist man irgendwann einfach müde. Bin auch zu müde, um mich jetzt aufzuregen. Es ist zwar ärgerlich, aber: Was ich spüre, ist: Jetzt ist es endlich mal vorbei.“

Ein Ende ohne Dramatik. Kein Kahn-Ende. Kein Elfmeterschießen. Keine Heldentat. Kein Patzer. Einfach nur null vier. Auch das war ihm recht. „Ich brauchte auch keine Dramatik mehr, sondern will einfach einen Strich drunter machen.“ Er hat seinen Abschied schon im Kopf durchgespielt. Spricht er von der nächsten Saison, sagt er „der FC Bayern“ und nicht mehr „wir“. Das europäische „wir“ endete nach 14 Jahren in St. Petersburg, als Kahn das erste Mal Bundesliga spielte hieß die Stadt noch Leningrad. „Eine schöne Stadt. Ein schöner Ort, um auszuscheiden“, meinte er und lachte. Dann ging er mit dem Bier in der Hand aufs Zimmer. „Ein Alkoholfreies“, wie er betonte. Klar, am Sonntag ist ja wieder ein Spiel.

Patrick Strasser

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