Liebling Louis
MÜNCHEN Dass in der Angelegenheit Louis van Gaal höhere Mächte die Finger im Spiel haben, steht ja außer Frage. Wie sonst könnte ein Trainer-Gott von ein paar Normalsterblichen zum schnöden Notnagel umoperiert werden? Wer am Einfluss von ganz oben zweifelte, wird am Mittwoch Punkt 13.30 Uhr eines Besseren belehrt: Es ist ja kein Zufall, dass der Noch-Coach justament in jener Sekunde das Trainingsspiel abpfeift, als an der Ecke Säbener Straße/Am Bienenkorb die Kirchenglocken läuten. Der Name der Pfarrei: Heilige Familie.
Gut 1500 Jünger der zuletzt eher vom Unheil befallenen Bayern-Familie feiern den holländischen Sturkopf am ersten Arbeitstag nach seiner Entmachtung wie einen Heilsbringer, einen Messias. Minütlich rechnet man mit der Ankündigung von LVG-Solidaritäts-Kundgebungen auf dem Marien- oder Wettersteinplatz, fast wie bei KT, dem beliebtesten Doktorarbeitsbetrüger aller Zeiten. Am ersten Frühlingstag des Jahres wird an der Säbener Straße kein Versager verabschiedet, sondern ein versehentlich Gefeuerter zum Märtyrer. Und der lässt sich das sehr gerne gefallen, weiß er doch, dass die Normalsterblichen, die ihm bald den Stuhl vor die Tür setzen, von ihrem Büro im zweiten Stock einen guten Blick auf das Jubel-Szenario auf dem Trainingsplatz haben.
Das erste Training nach der Entmachtung beginnt für die Heerscharen von Fans – Faschingsferien! – mit einer halben Stunde Verspätung. Offenbar hatte der Trainer in der Kabine einiges zu erzählen, bevor man sich gemeinsam an die Rest-Arbeit bis 14. Mai macht. Um 12.04 Uhr öffnet sich die Tür, auf die alle Fotografen ihre Objektive gerichtet haben und heraus tritt als Erster – der Chef: Louis van Gaal. Betont souverän, eine Hand Gerhard-Schröder-mäßig in der Hosentasche, um den Hals wie immer die Insignien der Macht: Stoppuhr und Trillerpfeife. Nach ihm kommt erst mal: nix. Das wusste er schon vor dem Hannover-Spiel: „Wer soll auf van Gaal folgen? Das ist eine schwierige Frage.“ Beantwortet ist sie noch nicht, es ist nur sicher, dass jemand folgen wird. Es sei denn, die Welt hört vorher doch noch auf sich zu drehen.
Nach und nach kommen die Spieler aus der Kabine, van Gaal plaudert mit Hermann Gerland, Thomas Müller und anderen. Um 12.11 Uhr sind endlich alle da: Die Hütchen-Einheit kann beginnen. Fitness-Coach Marcelo Martins dirigiert die Kicker, van Gaal schaut zu, umarmt mal Breno, tätschelt mal Arjen Robben die Wange, ist der entspannteste Trainer der Welt. Wer ist nochmal dieser Heynckes?
12.44 Uhr: Umzug auf den Trainingsplatz, wo sich eine Menge versammelt hat, über die jeder Regionalligist bei einem Heimspiel glücklich wäre. Match des Tages: Orange gegen Blau, neun gegen neun. Co-Trainer Andries Jonker spricht, van Gaal hört zu, hält aber die Macht in der Hand: die Trillerpfeife. Eine Dreiviertelstunde später ist das Training zu Ende, van Gaal übernimmt die Initiative: schickt alle Spieler zum Autogramme schreiben und greift selbst zum Stift, eine halbe Stunde lang. Jeder, der nicht bei drei auf dem Baum ist, bekommt ein Autogramm, mit viel Liebe aufs Papier gemalt. „Guck mal, wie schön er geschrieben hat“, sagt eine Mama zu ihrem Buben.
Die Fans sind selig. Einige rufen: „Wir woll’n van Gaal!“ Man kommt ins Gespräch. Ein Mann um die 40 gibt Tipps: „Die müssen früher schießen, den Ball nicht so lang führen. Wenn Sie Probleme mit der Disziplin haben, können Sie mich fragen.“ Van Gaal schaut, sagt: „Dann werden Sie Trainer.“ Die Antwort: „Ich bin Trainer.“ Darauf van Gaal: „Dann können Sie ja nächstes Jahr hier Trainer machen.“
Eine Frau hat auf ein bayernrotes Plakat die Zeilen aus der Hymne „Stern des Südens“ gemalt: „Weil wir in guten wie in schlechten Zeiten zueinander stehen.“ Van Gaal liest, sagt „Sehr gut, sehr gut“ und malt noch ein Autogramm. Er strahlt. Er weiß: Er ist jetzt Liebling Louis. Und die Bösen, das sind die Anderen.