Experte über FC Bayern und seinen Trainer Thomas Tuchel: "Dieser Auftritt hat ihm dauerhaft geschadet"

München - Es war ein bemerkenswerter Auftritt, den Thomas Tuchel nach der 0:3-Niederlage des FC Bayern im Supercup gegen RB Leipzig hingelegt hat. Unverhohlen kritisierte er die Leistung seiner Mannschaft und entschuldigte sich gar beim neuen Superstar Harry Kane. Doch warum äußerte er sich so deutlich – und welche Auswirkungen haben seine Sätze auf die Mannschaft?
Die AZ hat mit Kommunikationsexperte Michael Cramer über die Aussagen des Bayern-Trainers gesprochen. Der 52-Jährige ist Geschäftsführer der alt//cramer GmbH und berät mit seiner Firma Spitzenpolitiker, Regierungen, Unternehmer und Konzern-Vorstände. Zudem analysiert er in der Sky-Sendung "Gesagt. Gemeint!" die öffentlichen Aussagen von Spielern, Trainern und Managern in der Bundesliga.

Experte: "Als Trainer des FC Bayern beschreibt man keine Probleme, man löst sie"
"Erschreckend", "als hätten wir vier Wochen nichts gemacht", "ich erkenne nichts mehr wieder": Was ging Ihnen als erstes durch den Kopf, als Sie diese Aussagen von Thomas Tuchel nach dem Supercup gehört haben?
MICHAEL CRAMER: Ein missratener Auftritt. Ich weiß bis jetzt nicht, was er bezwecken wollte. Dieser Auftritt hat ihm dauerhaft geschadet, da bin ich sehr sicher. Letztlich hat er erklärt, er sei mit seinem Latein am Ende. Dass er dann auch noch der Mannschaft die Schuld in die Schuhe schiebt und im Prinzip sagt: 'Die haben nicht geliefert', war ein absoluter Bärendienst. Als Trainer des FC Bayern beschreibt man keine Probleme, man löst sie.
Nach dem Spiel meinte Tuchel, er entschuldige sich bei Harry Kane. Der denke sich sicher, "dass wir vier Wochen lang nichts gemacht haben". Ist es nicht problematisch, einen Spieler, der noch nichts für den Verein geleistet hat, so auf einen Sockel zu heben?
Was denken die Bayern-Profis bei solchen Sätzen? Im Bayern-Kader hat wahrscheinlich kein Spieler so wenige Titel geholt wie Harry Kane (lacht). Tuchel sagt, er müsse sich bei Kane entschuldigen, weil die anderen so schlecht waren. Das hilft dem Briten überhaupt nicht. Vorbehalte gegen ihn gibt es ja ohnehin genug. Ist er das Geld wert? Ist er nicht zu alt? Er hat noch nichts gewonnen. All diese Dinge werden ja öffentlich diskutiert. Es geht in einer Mannschaft ja auch um Eitelkeiten. Darum, wer die meisten Fans hat, wer die meisten Trikots verkauft – vom Gehalt mal ganz zu schweigen. Ein Team ist ein ganz sensibles Konstrukt. Einen einzigen Spieler dann so auf einen Sockel zu heben, indem man andere Spieler schlecht macht, ist sicher nicht hilfreich.
Ich bin mir sicher, dass sich der eine oder andere gestandene Spieler da nicht nur wundert, sondern auch abwendet und sagt: 'So läuft das auf Dauer mit uns ganz sicher nicht!'
Könnte er mit seinen Aussagen die Kabine oder zumindest einige Spieler innerhalb der Kabine verloren haben?
Von außen betrachtet scheint er ohnehin nicht nur Freunde im Kader zu haben. Es gibt die Debatte um Kimmich – durch Tuchel selbst entfacht. Dann gab es Spiele, die angeblich 'keine Thomas-Müller-Spiele' waren. Nach dem Supercup-Finale hatte er wahrlich andere Optionen. So schlecht haben die Bayern ja nicht gespielt. Natürlich genügt ein 0:3 zuhause nicht den eigenen Ansprüchen, aber sie hatten durchaus ihre Chancen. Aber er stellt die Mannschaft an den Pranger – öffentlich. Warum macht er das nicht intern? Ich bin mir sicher, dass sich der eine oder andere gestandene Spieler da nicht nur wundert, sondern auch abwendet und sagt: 'So läuft das auf Dauer mit uns ganz sicher nicht!' Das ist eine Gefahr, in die er sich völlig ohne Not begibt.
Experte erklärt: So hätte Tuchel nach der Leipzig-Pleite reagieren sollen
Andererseits könnte man aber auch argumentieren, dass er einfach nur ehrlich ist…
Ehrlich und transparent kann er nach innen sein, da kann er Klartext reden. Aber nach außen gilt es, die eigene Truppe zu schützen. Was hat er denn mit seinen Aussagen ausgelöst? Vor allem eine Debatte über sich selbst, denn plötzlich gab es eine mediale Lawine und es steht die Frage im Raum, ob Tuchel der richtige Trainer für den FC Bayern ist. Dann wird ihm noch seine Spielstatistik mit fünf Siegen aus 13 Spielen um die Ohren gehauen. Und natürlich wird jetzt auch die Frage diskutiert, ob sein Verhältnis zur Mannschaft gestört ist.
Wie hätte er sich denn sonst äußern sollen nach einer 0:3-Niederlage?
In etwa so: 'Wir haben heute nicht so gespielt, wie wir es können. Ein 0:3 ist nicht akzeptabel. Erst recht im eigenen Stadion. Aber wir sind noch in der Vorbereitung. Ich habe unsere Spiele gegen Monaco und City gesehen. Das war richtig gut. Hätten wir heute unsere Großchancen genutzt, hätten wir das Spiel klar gewonnen. Genau deswegen haben wir übrigens Harry Kane geholt. Damit aus eben diesen Chancen wieder Tore werden.' Mehr hätte er nicht tun müssen. Der Kane-Transfer wäre einleuchtend erklärt, niemand hätte ihm widersprochen.
Bayern-Trainer hochemotional: Warum hat Thomas Tuchel vor den Interviews niemand beruhigt?
Tuchel war bei den Interviews noch sichtlich geladen…
Was ich nicht verstehe ist, dass der Verein in diesem Fall so unprofessionell kommuniziert. Tuchel bekommt zuhause eine 0:3-Niederlage, ist hochemotional und läuft ungeschützt, ungefiltert vor die nächste Live-Kamera. Natürlich muss er das, dazu sind Trainer auch verpflichtet. Aber dass es offensichtlich niemanden gibt, der ihn davor kurz zur Seite nimmt und mit ihm bespricht, welche Aussagen jetzt am klügsten sind, ist für mich unverständlich. Stattdessen stellt er sich vor die Kamera und redet sich aus der Emotion heraus um Kopf und Kragen. Plötzlich sind die Dinge in der Welt – und dann bekommst du sie nicht mehr eingefangen.
Hat der FC Bayern also generell ein Kommunikationsproblem? Bei Julian Nagelsmann war es ja auch schon so, dass ihm so manche Aussage auf die Füße gefallen ist.
Ich glaube, das gilt für den gesamten Fußball. Aber der FC Bayern ist nun mal Branchenprimus und steht in Sachen Qualität und Professionalität weit über allen anderen Vereinen. Längst wäre es an der Zeit, da auch in Sachen Kommunikation den Anfang zu machen. Bayern steht mit Abstand am meisten im Fokus und durch diese enorme mediale Aufmerksamkeit sind die Dinge gleich drei, vier, fünf Mal so extrem wie bei anderen Vereinen. Insofern wäre es durchaus angebracht, auch die Kommunikation zu überdenken und zu professionalisieren. Diese negativen Fälle häufen sich ja…
Kimmich, Goretzka, Tel: Bringt Tuchel seine Spieler gegen sich auf?
Kommen wir zum Thema Führungsspieler: Tuchel hat Joshua Kimmich zuletzt die Eignung für die Rolle des klassischen Sechsers abgesprochen – dabei ist er aktuell Kapitän und muss mangels Alternativen auf genau dieser Position spielen. Finden Sie das problematisch?
Wenn man seine wichtigsten Spieler öffentlich anzählt und die sich – wie im Falle Kimmich – dann auch noch öffentlich rechtfertigen müssen, bringt man sie in eine schwierige Situation. Darunter leidet die Loyalität gegenüber dem Trainer. Natürlich ist es dann so, dass ein Spieler im Fall der Fälle möglicherweise sagt: 'Jetzt kann der sich auf mich auch nicht verlassen. Warum sollte ich ihm zur Seite springen?' Goretzka ist ja ein ganz ähnliches Thema. Mir ist in der letzten Woche übrigens noch etwas anderes aufgefallen…
Und zwar?
Tuchel ist in der Pressekonferenz vor dem Spiel auf Mathys Tel angesprochen worden. Ein Journalist hat den Spieler sehr gelobt und Tuchel nach ihm befragt. Der hat aber, fast wie ein trotziges Kind, darauf bestanden, dass Tel zu viele Chancen liegen lässt. Der Spieler ist 18 Jahre jung! Er hätte stattdessen ja auch das herausragende Talent von Tel loben und sagen können, dass man mit ihm an seiner letzten Schwäche, dem Toreschießen, arbeitet, damit er noch besser wird. Aber nein: Tuchel hat darauf beharrt, dem Journalisten zu widersprechen und wiederholt gesagt, dass Tel zu viele Chancen liegen lässt. Wie kommt soetwas denn in der Mannschaft an? Wie denkt sie denn über einen Trainer, der einen Nachwuchsspieler in der Öffentlichkeit nahezu bewusst schlechtredet? Damit tut sich Tuchel keinen Gefallen. Zumal diese Aussagen in einem diametralen Gegensatz zu dem stehen, wie er bei Bayern angefangen hat…
"Wie will er sich denn äußern, falls sie am Freitag in Bremen nicht gewinnen?"
Was meinen Sie?
Nach dem Spiel bei Manchester City, das sie 0:3 verloren haben, hatte er sich plötzlich 'schockverliebt' in seine Mannschaft. Schon das war für die Öffentlichkeit kaum nachvollziehbar. Rückblickend hat man den Eindruck, dass das eine ziemlich durchsichtige Anbiederung an die Mannschaft war.
Hat Tuchel seine kommunikativen Mittel während seiner kurzen Zeit bei Bayern denn schon ausgereizt?
Ich fürchte ja. Wie will er sich denn äußern, falls sie am Freitag in Bremen nicht gewinnen? Er hat ja schon alles durchgespielt. Von 'schockverliebt' über 'kein Thomas-Müller-Spiel’ bis hin zu 'die Mannschaft ist schuld' und kompletter Ratlosigkeit. Sollte Bayern in Bremen unentschieden spielen oder gar verlieren, wird es spannend…
Experte: "Tuchel scheint sich seiner Sache sehr, sehr sicher zu sein"
Was meinen Sie, wie die öffentliche Kommunikation in der Führungsetage ankommt? In der Sechser-Frage hat er schließlich auch schon Uli Hoeneß widersprochen, der meinte, es brauche nach der Verpflichtung von Konrad Laimer keinen neuen Sechser mehr.
Tuchel scheint sich seiner Sache sehr, sehr sicher zu sein. Dass er in einer Machtposition ist, die kaum ein anderer Trainer in der Bayern-Geschichte hatte und er es sich deshalb auch erlauben kann, öffentlich allen zu widersprechen. Mit Blick auf seine bisherige Bilanz bewegt er sich da aber auf dünnem Eis. Schon jetzt wird ihm von Experten wie Dietmar Hamann und Lothar Matthäus reingerieben, was er alles falsch macht. Das ist ein verdammt dünnes Eis – und das kann auch brechen. Da ist es durchaus gefährlich, wenn er im Verein zu viele einflussreiche Personen zu Kritikern und Zweiflern macht.
Was würden Sie Tuchel denn sagen, wenn Sie sein Berater wären?
Es wird Sie vielleicht überraschen, aber ich finde Tuchel eigentlich richtig gut. Ich glaube wirklich, das er ein sehr, sehr guter Trainer ist. Aber er muss jetzt mehr Ruhe ausstrahlen, die Reihen schließen. Die Mannschaft zu Fahnenträgern der gemeinsamen Sache machen. Dabei nach innen klar und deutlich, aber fair und konstruktiv die Themen ansprechen. Nach außen Geschlossenheit – externe Kritiker gibt es ohnehin genug. Es geht darum, auch kommunikativ ein Umfeld zu schaffen, in dem dieser herausragende Kader und sein herausragender Trainer ihre Qualität auch entfalten können.