"Dann muss er weggehen"
MÜNCHEN - Das Torwartleben kann schrecklich sein, so grausam schnell sind Hochs und Tiefs frequentiert. Am Mittwochabend noch erlebte Thomas Kraft, 22 Jahre jung, seinen vorläufigen Karriere-Höhepunkt als Bayern-Keeper mit dem 1:0 im ersten Achtelfinal-Duell mit Inter Mailand. Er schien unüberwindbar, wurde immer größer.
Vier Tage später war Kraft wieder auf Normalmaß zusammengeschrumpft, die Dortmunder hatten ihm keine Chance gelassen, sie zielten zu gut beim 3:1 in der Allianz Arena – gefeiert wurde Krafts Gegenüber Mitchell Langerak, ein Liga-Novize im BVB-Kasten. Und die nächsten Nervenprobe steht schon an: Am Mittwoch treffen nicht nur der FC Bayern und der FC Schalke im Pokal-Halbfinale aufeinander (20.30 Uhr, ZDF und Sky live), sondern auch Kraft und Manuel Neuer – und wie soll man den Schalker Nationaltorhüter nennen? Die Wunschlösung? Krafts Nachfolger? Kahns endlich legitimer Nachfolger? Oder doch Krafts künftiger Konkurrent?
Seit eineinhalb Jahren, seit dem gescheiterten Experiment mit Michael Rensing, buhlen die Bayern-Bosse um die Gunst von Neuer. Zwischendurch füllte die Verlegensheitslösung Jörg Butt diese Lücke mehr als ordentlich aus, bis ihm Bayern-Trainer Louis van Gaal ab Anfang Januar völlig überraschend Kraft vor die Nase setzte. Die Empörung bei den Bossen war groß ob des Risikos, die guten Leistungen des Jungspunds ließ sie verstummen. Die Operation Neuer, der noch einen Vertrag in Gelsenkirchen bis 2012 hat und erst dann ablösefrei wäre, lief im Hintergrund stetig weiter. Es schien eine weitere Belastungsprobe zu werden, den Trainer vom – zumindest im Sommer – sehr kostspieligen Einkauf Neuers zu überzeugen.
Am Freitag präsentierte van Gaal, wieder mal für alle überraschend, eine andere Sicht: „Ich denke, dass jeder Verein zwei Spitzentorhüter braucht. Und Butt hat bis Ende des Jahres einen Kontrakt“, sagte van Gaal und meinte: „Ich denke, dass Neuer sehr gut passen kann, weil wir zwei Spitzentorhüter brauchen. Auf jeder Position brauchen wir ein höheres Niveau.“ Nanu? Plötzlich also doch Neuer? Nachfrage in der TV-Pressekonferenz: Thomas Kraft hat gesagt, er habe keine Lust, sich als Nummer zwei auf die Bank zu setzen. Konter van Gaal: „Dann muss er weggehen. Dann ist er nicht geschickt für eine Spitzenmannschaft.“ Will sagen: Kraft habe dann nicht den Schneid für ein Top-Team, wäre nicht auserwählt für harten Konkurrenzkampf. Das ist van Gaals Credo, das Leistungsprinzip steht über allem, erworbene Meriten zählen nichts. Darauf angesprochen, spitzte Kraft die Lippen, als müsse er einen Schuss mit dem Mund blocken und sagte: „Ich konzentriere mich von Spiel zu Spiel, schauen wir einmal, was passiert.“
Manuel Neuer dagegen vermutet einen Hintersinn im plötzlichen Sinneswandels van Gaals: „Das ist ein kleiner Trick vor dem DFB-Pokalspiel am Mittwoch.“ Auf die Frage nach seiner Zukunft meinte der 24-Jährige schmunzelnd: „Ich hoffe, dass die Zukunft gut aussieht.“ Das wird sie aufgrund seiner Klasse so oder so. Für Bayerns Torwartlegende Oliver Kahn muss die in München liegen. „Neuer kann in der Nationalelf eine Ära einleiten. Und der FC Bayern hat immer den Anspruch, den Nationaltorhüter in seinen Reihen zu haben“, sagte er im ZDF. Seit 20 Jahren ist Neuer Mitglied bei seinem Heimatverein, er windet sich und formuliert offen: „Man kann sich alles vorstellen, auch ich.“ Verpasst Schalke mit einem Pokal-Aus bei den Bayern am Mittwoch die letzte Chance auf eine Europacup-Teilnahme in der kommenden Saison, schwinden die Optionen, den Torhüter halten zu können. Dann braucht Schalke das Geld.