Story

Der Ötztaler Radmarathon: Zwischen Leidenschaft und Leiden

227 Kilometer, 5.500 Höhenmeter, vier Alpenpässe: der Ötztaler Radmarathon gehört zu den härtesten Rennen für Hobby-Radfahrer. AZ-Mitarbeiter Stephan Kabosch hat sich diesem Abenteuer gestellt. Eine Er-Fahrung.
Stephan Kabosch |
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
0  Kommentare
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Hohe Berge, steile Straßen: Teilnehmer des Ötztaler Radmarathons während der Auffahrt ins Kühtai.
Hohe Berge, steile Straßen: Teilnehmer des Ötztaler Radmarathons während der Auffahrt ins Kühtai. © (www.imago-images.de)

12.145 Tage. Exakt so lange ist es her, dass ich zum letzten Mal eine Rückennummer an ein Radtrikot geheftet habe. Um halb fünf Uhr morgens am 9. Juli bereite ich mich in einem Hotelzimmer in Obergurgl auf den längsten aller Radtage vor. Es werden wohl zehn, zwölf oder 14 Stunden werden zwischen Leidenschaft und Leiden, zwischen Niederungen und Hochgefühl, eine – auch im übertragenen Sinn – Berg- und Talfahrt.

Die Frage nach dem "Warum“ hat sich mir zu keinem Zeitpunkt in den gut sechs Monaten der Vorbereitung auf den "Ötzi“ gestellt. Es waren die Liebsten, die Freunde, auch die Zweifler, die das wissen wollten: "Späte Midlife-Crisis eines 58-Jährigen?“, "Beschäftigungstherapie für einen Unausgelasteten?“ Egal, alles unwichtig an diesem Morgen.

Sicherer als auf der Nymphenburger Straße am Montagmorgen

Drunten in Sölden stehen dann 322 Frauen und 4.011 Männer in den Startblöcken. Sie alle hatten Losglück unter 20.000 Bewerbern, die sich jedes Jahr ihren Traum vom Ötztaler erfüllen wollen. Und auch fast 800 Bayern sind diesmal dabei, als um 6:30 Uhr der Startschuss zwischen den Bergen des Ötztals hallt.  "Eher vorsichtig fahren in dieser Masse“, hatte ich mir vorgenommen für die ersten 30 Kilometer, in denen es zum Teil recht steil talauswärts geht. Doch bald ist klar: Hier fühle ich mich sicherer als auf dem Radweg in der Nymphenburger Straße an einem Montagmorgen. Wer am Ötzi teilnimmt, kann Rad fahren.

Der Ort Ötz ist erreicht. Hier beginnt der erste der vier Pässe, das Kühtai. Es wird nicht der längste, aber der steilste Anstieg dieser Tour, hinauf auf 2.017 Meter. Direkt am Beginn staut es sich für kurze Zeit. Und sofort richten sich die ersten Blicke von nervösen Fahrern auf die am Lenker montierten Radcomputer und auf die Uhren. Der Grund sind die Zeitvorgaben, die die Veranstalter den Teilnehmern machen: 9:30 Uhr Kühtai, 12:15 Uhr Brenner, 14:30 Uhr Jaufenpass, 19:30 Uhr Timmelsjoch. Wer zu spät kommt, ist raus aus dem Rennen.

Tour-de-France-Spektakel im Kühtai

Doch der kleine Stau löst sich rasch auf, das Feld zieht sich hinauf nach Ochsengarten und vorbei am Finstertaler Stausee in die Länge. Kühe und Schafe am Straßenrand, Weidegitter auf der Fahrbahn:  dieser Ort ist eher geschaffen für Bergsteiger als für Rennradfahrer. Doch auf den letzten Kilometern hinauf zur Passhöhe ist es dann so, als wäre Alpe d’Huez, dieses Sinnbild für grenzenlose Radsportbegeisterung, einmal schnell nach Tirol umgezogen: Hunderte Zuschauer mit Pfeifen, Trommeln, klatschenden Händen und lauten Rufen entfachen ein Tour-de-France-ähnliches Spektakel.

Kühtai ist erreicht. Hier haben die Veranstalter die erste von fünf großen Labestationen aufgebaut. Es gibt Obst, Brot, Riegel, Gel und Kuchen. Und es gibt vor allem ganz viel zu Trinken angesichts der angesagten Hitze von bis zu 38 Grad. Aber noch hat es angenehme Temperaturen, als wir die Abfahrt hinunter ins Inntal beginnen. Vorne weggedüst sind längst schon die Profis, die den Sieg bei diesem 42. Ötztaler Radmarathon untereinander ausmachen werden. Sie sind in dieser Abfahrt bis zu 120 Stundenkilometer schnell. Ich fahre natürlich viel langsamer, so ganz genau möchte ich mein Tempo aber gar nicht wissen und schalte den Radcomputer aus.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

„Schön“ und „Berg“: Eine Wortkombination auf Bewährung

Kurz nach zehn Uhr Innsbruck. Die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Und von der aus ich die Strecke rauf zum Brenner Dutzende Male geradelt bin. Daher kenne ich jede große Steigung und jede kleine Möglichkeit zum Durchschnaufen. Ich fahre in einer Gruppe von zehn bis zwölf Teilnehmern, die alle in etwa gleich gut drauf sind und sich daher in der Führungsarbeit abwechseln können. Das spart Kräfte. „Schönberg“ heißt dieser Abschnitt der Auffahrt. „Schön“ und „Berg“, eine Wortkombination auf Bewährung, deren Rechtfertigung ich in den folgenden Stunden immer wieder anzweifeln werde. Doch noch rollt es gut hinauf zum Brenner. Knapp unterhalb der Passhöhe auf 1.370 Metern knallt es hinter mir.  Reifenplatzer bei einem Fahrer. „Besser hier als in der Abfahrt nach Sterzing“, sagt einer. Wohl wahr.

Am Brenner sind zwei von vier Pässen, 129 von 227 Kilometern geschafft, aber noch ist nichts erreicht. Man könnte auch sagen: Es geht jetzt los. Denn tatsächlich wird es hinauf auf den Jaufenpass das erste Mal so richtig hart. Es ist heiß, ich fahre in jedes Stück Schatten, fühle mich nicht gut. Zweimal bleibe ich stehen, um zu trinken und zu essen, vor allem um ein wenig durchzuschnaufen und die Oberschenkel für ein paar Minuten zu entlasten. Als es dann weitergeht, muss ich an jenen Rennfahrer aus der Schweiz denken, der sich bei der Österreich-Radrundfahrt in den achtziger Jahren die Großglockner Hochalpenstraße hinaufgequält hat. Dabei schüttelte er immer wieder den Kopf und sagte mantraartig: "I kann nimme, I hör uf. I kann nimme, I hör uf". Solange, bis er schließlich ganz oben auf dem Hochtor war.  Motivatio ex negativo. Sie hilft auch mir durch die letzten Serpentinen zum 2094 Metern hoch gelegenen Jaufen, den ich 35 Minuten vor dem Zeitlimit erreiche. Da fährt der Italiener Manuel Senni gerade in Sölden als Gewinner über die Ziellinie.

Weiter, immer weiter: Der Autor auf dem Weg hinauf zum Timmelsjoch.
Weiter, immer weiter: Der Autor auf dem Weg hinauf zum Timmelsjoch. © sportfotograf

Der letzte Anstieg: Nur der Wille zählt

Nach einer etwas regenerierenden Abfahrt ins Passeiertal türmt sich vor mir ein Gigant auf. Das Timmelsjoch: 29 Kilometer Länge und 1.724 Höhenmeter bis zur Passhöhe. Wenigstens ist das Zeitlimit jetzt so, dass ich Hoffnung habe, das Timmels rechtzeitig zu bezwingen. Die Organisatoren sind gnädig mit jenen, die es bis hier geschafft haben. Ab jetzt zählt nur der Wille. Nur?

Am Beginn des Anstiegs stehen die Bewohner von St. Leonhard und begießen uns aus Gartenschläuchen. Andere haben Wasser in Eimern mitgebracht, das sie den Fahrern zur Abkühlung über den Nacken schütten. Das tut gut, aber hält nicht lange an. Die Oberschenkel melden sich wieder. Mal zwickt es rechts, dann links, aber Gott sei Dank niemals gleichzeitig. Es ist längst kein Hinauffahren mehr, sondern eher ein Hinaufarbeiten. Ab und an unterbrochen von kleinen Zwangspausen. Die Veranstalter haben auf die Hitze reagiert und zusätzlich zu den eingeplanten noch weitere, fliegende Labestationen eingerichtet für die Flüssigkeitsaufnahme.

Die Abschnitte zwischen den Pausen lege ich stets in einer kleinen Gruppe zurück. Wir motivieren uns mit aufmunternden Blicken und Gesten. Wenn die Kraft gerade reicht, unterhalten wir uns sogar ein wenig. Eine Fahrerin rollt neben mir und sagt: „Stephan, deine Jacke fällt gleich aus der Trikottasche. Pass‘ auf, dass du sie nicht verlierst.“ Hat die gerade Stephan gesagt? Kennen wir uns? Nein, ich hatte vergessen, dass mein Name auf der Startnummer steht. „Danke, Ulrike“.

Die letzte Abfahrt: „Vorsicht mit Vollgas“

Mittlerweile werden die Schatten länger, es ist nicht mehr ganz so heiß. Aber beim Blick nach oben sind immer noch die Serpentinen der Straße zu sehen. Wieder brauche ich eine kurze Pause. Andere Fahrer schieben ihr Rad, manche ruhen sich auf einer der Steinmauern in den Kehren aus.

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Dann kann ich ihn sehen, den Tunnel, der zugleich bedeutet, dass das Schlimmste überstanden ist, weil es danach relativ flach weitergeht. „Austria 1.000 Meter“ – Noch nie zuvor in meinem Leben war ich so froh, dieses Hinweisschild zu sehen. Denn die Grenze zwischen Italien und Österreich, das ist praktisch auch die Passhöhe. Um 18:14 Uhr habe ich das Timmelsjoch erreicht.  

Die lange Abfahrt hinunter nach Sölden wird nur noch von einem kurzen Gegenanstieg zur Mautstelle der Timmelsjochstraße unterbrochen.  Diese letzten 150 von fünfeinhalbtausend Höhenmetern tun nicht mehr weh. Auch keinem anderen in der kleinen Dreiergruppe, die sich hier gebildet hat. „Jetzt nur noch vorsichtig den Rest runterfahren“, sage ich zu einem. „Ja, vorsichtig, aber mit Vollgas“, lächelt er zurück. Die letzten Kilometer sind tatsächlich ein Genuss. Ich halte kurz an vor dem Hotel in Obergurgl, wo mein Sohn seit zwei Stunden auf mich wartet. Die Zeit nehme ich mir. Danke, Simon, für die Betreuung an diesem Wochenende.

Schöne Geste: Sieger Manuel Senni (r.) empfängt den spätesten Ötztaler-"Finisher," Andreas Pell.
Schöne Geste: Sieger Manuel Senni (r.) empfängt den spätesten Ötztaler-"Finisher," Andreas Pell. © (www.imago-images.de)

Der Sieger wartet im Ziel auf den spätesten „Finisher“

Sölden, die letzten 1.000 Meter. Es ist kaum zu glauben, wie viele Menschen noch immer an der Strecke stehen und die Ankommenden begrüßen, die „Ötzi-Finisher“. Kurz vor 19 Uhr rolle ich endlich unter dem Zielbogen durch. Nach 12 Stunden und 19 Minuten.

Die Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ habe ich an diesem längsten Tag nicht gefunden. Vielleicht habe ich sie auch gar nicht wirklich gesucht. Eventuell liegt sie darin, dass das Leiden genau im Moment der Zieleinfahrt vergeht und die Leidenschaft bleibt. Oder darin, dass im Ziel Tausende Menschen und mit ihnen der Sieger auf den Letzten, nein nicht den Letzten, sondern auf den spätesten Finisher warten und ihn feiern. Keiner kämpft für sich alleine beim Ötztaler Radmarathon.

  • Themen:
Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
0 Kommentare
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
Noch keine Kommentare vorhanden.
merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.