Trauer um Joseph Vilsmaier (†81): Servus, Sepp!

München - Für viele Psychologen liegt der Schlüssel zu einer Person in der Kindheit. Und vor sechs Jahren hat Joseph Vilsmaier der AZ erzählt, welches Bild in ihm als erstes aufkommt, wenn er die Augen schließt und zurückgeht – in das verdunkelte München der Bombennächte: "Es ist das Bild mit den vielen leeren Kinderwägen vor einem Hochbunker" – es ist gespenstisch. "Dorthin nach Obersendling, oben an die Plinganserstraße sind wir mit meiner Tante von Thalkirchen aus hoch gerannt. Für mich war der Kinderwagen in der Angst dieser Bombennächte wie eine Schutzburg."
Vilsmaier: Vom Kameratechniker zum Regisseur
Aber es wird noch Jahrzehnte dauern, bis aus dem Kameratechniker, der bei Arnold und Richter in der Türkenstraße lernte, dem folgenden Klavierstudenten am Münchner Konservatorium endlich ein Filmemacher wird: vom Kabelträger zum Kameraassistenten zum Kameramann - bis zum Regisseur, 1988 mit "Herbstmilch".
Der Schlüsselmoment dafür war drei Jahre zuvor: "1985 hatte ich die Kamera an einem nasskalten Tag in der Bretagne aus dem Wagen gehoben und es hat einen Knacks getan - an meinen Bandscheiben. Ich bin dann zur Erholung – heute sagt man Reha oder Wellness – dahin gefahren, wo ich nach meiner frühen Kindheit in München dann aufgewachsen bin: auf einem kleinen Hof zwischen Eggenfelden und Pfarrkirchen. Ja, und ich fahr’ da vorbei und sehe einen Bauern auf’m Feld, den ich von früher her als Kindheitsfreund eben kannte, und halte an. Und der erzählt: ,Du, da gibt’s eine verrückte Bäuerin in Schönau drüben, die hat ein Buch über ihr Leben geschrieben: Da kommt auch euer Hund, der Spitz Schockerl vor.’"
Herbstmilch: Eine märchenhaft wahre Geschichte
Vilsmaier fuhr schnell nach Passau in eine Buchhandlung und liest den Roman in einem Zug. Dann nimmt er sofort das Telefonbuch zur Hand und telefoniert alle Wimschneiders durch: "Die dritte Nummer war’s. Es war halb zehn abends, da sind die schon im Bett, weil sie so früh raus müssen... Aber der Albert Wimschneider hat zu mir gesagt: ,Kimmst um elfe, um halb zwölfe gibt’s Essen...’ Es war Sonntag, ich bin vorbei gekommen und erst um halb acht abends wieder weggefahren. Erst haben sie gelacht, aber dann hatte ich sie überzeugt, dass ich aus ,Herbstmilch’ einen Film machen will."
Eine märchenhaft wahre Geschichte, auch wenn man bedenkt, dass Joseph Vilsmaier von Produktion und Kalkulationen gar keine Ahnung und noch nie Regie geführt hatte. "Aber ich hab’ mir gedacht: Ich versuch’s und wenn’s nichts wird, mach’ ich halt wieder Kamera weiter und zahle so die Schulden ab."
Wendepunkt in Joseph Vilsmaiers Leben
So wurde "Herbstmilch" zu einem Wendepunkt in Vilsmaiers Leben: "Am Anfang sind wir nur mit 40 Kopien gestartet. Aber am Schluss hatten 2,5 Millionen Menschen den Film, gesehen. Dabei habe ich damals nicht einmal eine Filmförderung bekommen, weil ich beim Antrag in allen Sparten ,Vilsmaier’ reingeschrieben habe, weil ich ja alles selbst machen musste. Da haben die gedacht: ein Verrückter! Aber es stimmte ja, ich habe alles selber gemacht, die Locations gesucht, alte Dreschmaschinen aufgetrieben, Regie, Kamera. Ich bin monatelang rumgefahren, bin zu Rosshändlern und jeder wusste oder hatte irgendwas."
Ähnlich wie in seinem folgenden Nachkriegszeit-Film "Rama dama" und dann wieder 1995 in der Robert-Schneider-Verfilmung "Schlafes Bruder" gelingt Vilsmaier eine publikumswirksame Balance: Gezeigt wird durchaus authentisch die Härte der Zeit, die durch Sentimentalität, aber ohne Kitsch abgemildert ist, vor allem auch durch eine klassische, etwas glatte Schönheit der Bilder. Aber dazu kommt etwas, was man jedem Vilsmaierfilm ansieht: die ansteckende, fast kindliche Begeisterung, mit der Vilsmaier all seine Projekte verfolgte – und in fünf weiteren Werken auch seine sich herauskristallisierende, unkorrumpierbare Überzeugung, welchen Auftrag uns Deutschen die Vergangenheit gibt.
"Versucht, den Wahlsinn des Krieges filmisch einzufangen"
Zum 60. Jahrestag des Kriegsendes, 2005, hat es Joseph Vilsmaier der AZ so erzählt: Gerade hatte die ARD seinen Film "Leo und Claire" über einen Patrioten, der lange nicht verstehen will, dass Nazi-Deutschland ihn als Juden zum Untermenschen erklärt haben, erst im Nachtprogramm ausgestrahlt. Vilsmaier fand das einen Fehler: "Stundenlang sieht man im Fernsehen Politiker, die aber eben nur reden. Dabei sollte man besser auch handeln und Filme zeigen, damit das passiert, was wirklich notwendig ist: Das Nicht-Vergessen und das Nie-wieder! Filme können dazu einen viel beeindruckenderen Beitrag leisten als Worte, weil sie die Leute mit erschütternden Geschichten konfrontieren. Ein Geschichtsbuch, das liest man vielleicht und denkt: Furchtbar. Aber ein Film, den man sieht, der packt und bewegt einen. Und dann denkt man intensiver darüber nach."
Vilsmaier hatte sich da bereits Jahre lang intensiv an der deutschen Geschichte abgearbeitet. Zu "Stalingrad" (1993) hatte er der AZ erzählt: "Das hat auch etwas mit meiner Familie zu tun. Mein Vater hatte drei Brüder, die alle dort gefallen sind. Und ich habe eben versucht, den Wahnsinn des Krieges filmisch einzufangen."
Vilmaiers Filme: Beiträge gegen das Vergessen
Ein weiterer, erschütternd harter Film wurde dann 2006 "Der letzte Zug". Er schildert den letzten Transport von Berliner Juden in die Vernichtungslager. "Für mich ist das Projekt nicht kommerziell interessant, sondern ein Beitrag gegen das Vergessen", sagte Vilsmaier. Dass er dabei mit der schwierigen Produzentenlegende Artur Brauner ausgekommen war, dafür hatte Vilsmaier eine klare Erklärung: "Ich bin auch ein Sturschädel – aber gutmütig."
Auch Vilsmaiers größter Erfolg hatte etwas mit der NS-Vergangenheit zu tun, wenn gegen Ende die berühmteste Boygroup der Welt sich wegen der jüdischen Herkunft einiger Mitglieder trennen muss. Vor den "Comedian Harmonists" hatten Vilsmaier viele gewarnt: "Was willst Du denn mit denen? Da gibts CDs für drei Mark zu kaufen, weil das Ladenhüter sind." Aber am Ende hat sogar das Weiße Haus eine Kopie angefordert, weil Präsident Clinton ihn sich anschauen wollte. "Der Film war damals sein Lieblingsfilm", hat Vilsmaier oft stolz erzählt, und und den Zeitungsartikel darüber aus der Washington Post hatte er gerahmt aufgehängt im Bungalow seiner Produktionsfirma Perathon in Grünwald.
Ein Meister einnehmender Kinobilder
Sein folgender Spielfilm "Marlene" mit Katja Flint war kein großer Erfolg, auch weil Vilsmaier der atemberaubenden Geschichte der Dietrich nicht genug vertraute und noch eine kitschige, politische Liebesgeschichte dazudichtete. Auch die Verfilmung der Autobiografie des Münchner Stadtflaneurs Sigi Sommer "Und keiner weint mir nach", war kein großer Publikumserfolg. "Ja, das ist nicht immer gerecht", resümierte Vilsmaier zu seinem 75. Geburtstag: "Aber die Ponkie hat in der AZ geschrieben: ,... wahrscheinlich Vilsmaiers bester Film.’ Da bin ich heute noch stolz drauf."
Jetzt, wenn wir auf Joseph Vilsmaiers gesamtes Schaffen zurückblicken, sehen wir das Werk eines Mannes, der ein Meister einnehmender Kinobilder war, einer, der sympathisch jovial Menschen für seine oft großen und teuren Projekte gewinnen konnte – und einen Menschen, der einen unkorrumpierbaren Instinkt hatte für das moralisch Richtige.