„Yes We Cem“: Jetzt kommt das Obamale

ERFURT - Cem Özdemir übernimmt die Grünen: Erstmals in Deutschland wird ein türkischstämmiger Politiker Chef einer Partei – und die spürt einen Hauch von USA
Am Ende umarmen, streicheln und tätscheln sich wieder alle in Deutschlands größter Knuddel-Partei. Auf ihrem Parteitag am Wochenende in Erfurt liegen die Grünen der politischen Wuchtbrumme Claudia Roth zu Füßen. Wählen den mediengewandten, smarten und rhetorisch brillanten Cem Özdemir zum Co-Vorsitzenden. Nominieren die beiden majestätisch umherschreitenden Alt-Minister Jürgen Trittin und Renate Künast zu Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl.
Und alle reden sich ihre Rolle in bequemer Oppositionsrhetorik schön: „Unsere Partei wird nicht gewählt für technokratischen Glattschliff“, schreit Roth in den Saal. „Grün pur“ sei jetzt angesagt. Özdemir sekundiert: „Wir formulieren manchmal ein wenig überkomplex. Unsere Aufgabe ist aber nicht, Kabinettsvorlagen zu schreiben, sondern die Regierung stärker in Mann- und Fraudeckung zu nehmen.“ Solche Sprüche kommen an bei der Basis. Also fordern die Grünen mit Inbrunst eine Sonderabgabe für den bösen Finanzsektor, die Abschaffung der Studiengebühren und den zivilen Wiederaufbau in Afghanistan.
79,2 Prozent wählen Özdemir zum Nachfolger Reinhard Bütikofers. Das ist für Grünen-Verhältnisse ein richtig gutes Ergebnis. Özdemir bleibt bei seinem Comeback auf der Berliner Bühne nur knapp unter den 82,7 Prozent, die Claudia Roth bekommen hat, die rührige und so oft gerührte Mutter Beimer der Partei. Der 42-Jährige ist nicht nur der erste türkischstämmige Chef einer deutschen Partei, sondern auch der erste Vorsitzende mit Migrationshintergrund überhaupt.
Entsprechend gewaltig ist der Andrang der türkischen Medien in Erfurt: Özdemir bedient jeden Interviewwunsch, sehr freundlich, geduldig und auf Wunsch natürlich auch auf Türkisch. Ahmet Külahci, Chef des Berliner Büros der „Hürriyet“, platzt fast vor Stolz: „Das ist heute für alle Deutsch-Türken ein historischer Tag“, sagt er der AZ. Seit drei Tagen prangt Özdemir auf Seite eins. Die Schlagzeile lautet am Sonntag prompt: „Deutschlands Obama“.
Spott von den jungen Bloggern: Darauf einen Kiwilikör
Ein arg überstrapazierter Vergleich in Erfurt: Die jungen Blogger, die aus der Halle live ins World Wide Web berichten, machen sich bereits über die Journalisten lustig: Für jeden Obama-Vergleich in den Medien, so haben sie verabredet, wollen sie einen Kiwilikör trinken. Sie lassen es dann aber bleiben, weil man gar nicht so viel Likör trinken kann, wie es Überschriften à la „Ein Hauch von Obama“, „Das grüne Obamale“ oder „Bonsai-Obama“ hagelt. Subtiler ist da noch der Button, mit dem junge Migrantinnen durch die Halle laufen: „Yes We Cem“ prangt darauf, in Anspielung an Obamas Slogan „Yes we can“.
Auch Özdemir selbst hat solche Vergleiche satt: Er spricht lieber von einem Politikwechsel: „Ich kämpfe für eine Gesellschaft, in der alle mitgenommen werden – egal ob sie aus Kasachstan oder Anatolien kommen oder ob sie schon gegen die Römer im Teutoburger Wald gekämpft haben.“ Überkomplex klingt das nicht. Und als ein Grüner aus Bremen Özdemir vor der Wahl fragt, ob es stimme, dass er „mediengeil“ sei, beweist der Schlagfertigkeit: „Laut der mir vorliegenden Stellenanzeige ist Schüchternheit und mediale Zurückhaltung keine zwingende Voraussetzung, um den Job zu machen.“
Einmal aber entgleisen selbst dem Medienprofi Özdemir die Gesichtszüge: Fritz Kuhn, Fraktionschef im Bundestag, Wirtschaftsexperte und Realo-Urgestein, erhält nicht die nötigen Stimmen, um in den Parteirat einzuziehen. Ein kalter Hauch fegt durch die Halle. Da sind sie wieder, die internen Heckenschützen. Sie gehören halt genauso zu den Grünen wie die ewige Knuddelei.
Markus Jox