Wolfgang Schäuble: "Das Debattenklima wird rauer"
München - AZ-Interview mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble: Der 78-jährige CDU-Politiker aus Freiburg war lange Bundesinnenminister und -finanzminister. Seit 2017 ist er der Präsident des Deutschen Bundestags. In der AZ spricht er über die Folgen des Protests von Gästen der AfD im Parlament - und gesellschaftliche Folgen der Pandemie.
AZ: Herr Schäuble, nach den Störungen durch Besucher am Rande der Debatte über das Infektionsschutzgesetz haben Sie die Verwaltung gebeten, rechtliche Möglichkeiten in Bezug auf die Täter und diejenigen zu prüfen, die ihnen Zugang zu den Liegenschaften des Bundestages verschafften. Gibt es schon Ergebnisse?
WOLFGANG SCHÄUBLE: Die Ermittlungen dauern noch an. Der Bundestagspolizei liegen zahlreiche Hinweise vor, die derzeit intensiv ausgewertet werden. Dazu gehört auch umfängliches Filmmaterial. Bei aller politischer Empörung gilt wie bei anderen Verfahren auch hier: Erst nach genauer Prüfung des Sachverhalts können die Geschehnisse umfassend rechtlich bewertet und Fehlverhalten angemessen sanktioniert werden.
Es war der erste Protest dieser Art, der ins Reichstagsgebäude gelangte. Vorher kam er dem Parlamentsgebäude sehr nahe. Müssen die Sicherheitsmaßnahmen verschärft werden? Von 210 Stellen bei der Bundestagspolizei sind 20 mangels Nachwuchs nicht besetzt, spielt das eine Rolle?
Das hat damit nichts zu tun. Die Sicherheit der Abgeordneten war und ist gewährleistet. Die Präsenz von Beamtinnen und Beamten der Bundestagspolizei wurde auf der Plenarebene bereits früher sichtbar erhöht. Und wenn nach Abschluss der laufenden Prüfung unserer Sicherheitsvorkehrungen Änderungen bei den Regeln notwendig sind, werde ich den Fraktionen dazu Vorschläge machen.
Kontroverse Debatten gehören ins Parlament
Es gibt eine juristische Bewertung des Vorfalls, aber auch eine moralische. Ausgerechnet das Reichstagsgebäude, dieses Symbol deutscher Parlamentsgeschichte, ist betroffen. Was haben Sie als langgedienter Abgeordneter angesichts dieses Mangels an Respekt vor dem Bundestag und unserer Geschichte empfunden?
Da muss man dann auch die Bilder des 29. August mit einbeziehen, als die Treppen des Reichstagsgebäudes kurzzeitig besetzt wurden. Das war unerhört. Eine der Konsequenzen war, dass Bundesinnenminister Horst Seehofer im Einvernehmen mit mir Demonstrationen am vergangenen Mittwoch im befriedeten Bereich verboten hat. Das haben wir bisher ganz selten gemacht, denn auch deutlicher Protest gehört zur Demokratie. Aber hier ging es darum, die Arbeitsfähigkeit des Parlaments sicherzustellen. Im Juli haben sich übrigens Greenpeace-Aktivsten an der Westfassade abgeseilt und ein Transparent enthüllt. Damals war die Empörung nicht so groß. Wir können jedoch die Empörung über den Missbrauch des Reichstages als Kulisse nicht an den politischen Zwecken bemessen, wenn wir glaubwürdig bleiben wollen.
Hintergrund der Proteste ist die Wut auf die politischen Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie. Demnach müsste sich der Zorn legen, wenn die Pandemie durch einen Impfstoff beherrschbar geworden ist. Glauben Sie an eine solche Entwicklung?
Wir sehen die generelle Entwicklung, dass sich die Gesellschaft verändert. Das gilt für die Einstellung mancher Teile der Bevölkerung, aber auch für die Medien. Die Auseinandersetzung mit bestimmten Themen wird heftiger, gleichzeitig sind die Erregungswellen immer kurzfristiger. Für die Parteien und die Politik wird es dadurch schwieriger, den Menschen ein Grundvertrauen in die Funktionsweise der freiheitlich-rechtstaatlichen Institutionen zu vermitteln. Das Debattenklima wird auch im Bundestag rauer. Aber die Frage ist, was Ursache und was Wirkung ist. Ich glaube nicht, dass die Härte der Auseinandersetzung im Bundestag die Ursache für die Härte der gesellschaftlichen Auseinandersetzung ist. Es ist eher umgekehrt. Kontroverse Debatten gehören ins Parlament, hier ist der Ort für den Streit nach Regeln.
Bund und Länder haben unter Leitung der Kanzlerin die Corona-Maßnahmen noch einmal verschärft. Der Bundestag war bei den Beratungen nicht vertreten. Nach außen könnte erneut der Eindruck entstehen, das Parlament sei im Corona-Kampf außen vor. Was sagen Sie zu dieser Kritik?
Es hat im Bundestag ein bisschen gebraucht, das lag auch an der für alle unkalkulierbaren Pandemie-Situation, die im Frühjahr schnelles staatliches Handeln erforderte. Aber wir haben, auch unter meiner Beteiligung, den Druck auf die Regierung verstärkt. Und der Gesetzgeber hat jetzt klargestellt, dass Bund und Länder bei diesen schwierigen Fragen auf Grundlage der freien Entscheidung der Mehrheit unseres Parlaments handeln.