Interview

Wie sich absurdeste Verschwörungstheorien in Bayern verbreiten

Der Freistaat liegt beim Glauben an Konspirationen im Ländervergleich weit vorne. Wie sich krudeste Theorien unaufhaltsam verbreiten.
von  Ralf Müller
Ein Demonstrant bei einem Anti-Corona-Protest: Die Pandemie war die Blütezeit von erfundenen Erzählungen.
Ein Demonstrant bei einem Anti-Corona-Protest: Die Pandemie war die Blütezeit von erfundenen Erzählungen. © Michael Schick/imago

Vom Querdenker oder "Reichsbürger" bis hin zum Verfechter des "großen Austauschs" oder der Ansicht, der Klimawandel sei eine Erfindung – viele Menschen glauben, dass finstere Mächte im Verborgenen die Fäden ziehen und wichtige politische Entscheidungen aus eigennützigen Motiven treffen.

Innerhalb Deutschlands wurden bemerkenswerte Unterschiede im Grad der Verschwörungsmentalität festgestellt. In der Tendenz ist der Hang, solchen Theorien zuzustimmen, in Ostdeutschland größer als in den alten Bundesländern.

Es gibt aber Ausnahmen: In Bayern neigen 14,4 Prozent der Bevölkerung dazu, hinter allem eine große Verschwörung zu vermuten. Das ist der Spitzenwert für die westdeutschen Bundesländer und in Deutschland nur noch übertroffen von Brandenburg (14,9 Prozent), Sachsen (16,7 Prozent) und Mecklenburg-Vorpommern (18,1 Prozent).

"Es gibt sehr viele regionale Unterschiede"

AZ: Herr Heinisch, welches sind derzeit die gängigsten Verschwörungstheorien in Europa oder in den deutschsprachigen Ländern?
REINHARD HEINISCH: Das haben wir in dieser Form nicht erhoben, weil es sehr viele regionale Unterschiede gibt und wir auch sehen, dass das Verschwörungsdenken nicht stabil ist. Gestern mag Corona ganz oben gewesen sein, morgen ist es die EU mit dem koksenden Selenskyj, die Russland in Absprache mit der Nato einen Krieg aufzwingt. Wir fokussieren uns auf drei weitverbreitete Theorien. Erstens: "Großer Austausch" – die Regierungen ersetzen die Bevölkerung durch Immigranten. Zweitens: Corona war künstlich erzeugt, um die Menschen zu kontrollieren und der Pharmaindustrie zu Profiten zu verhelfen. Drittens: Klimawandel ist ein abgekarteter Schwindel, quasi um den Menschen eine andere Lebensweise vorzuschreiben.

Der Politikwissenschaftler Reinhard Heinisch forschte in Österreich, den USA und China. Dabei fungierte er auch als Berater für verschiedene US-Regierungsstellen.
Der Politikwissenschaftler Reinhard Heinisch forschte in Österreich, den USA und China. Dabei fungierte er auch als Berater für verschiedene US-Regierungsstellen. © privat

War die Corona-Pandemie die Blütezeit der Verschwörungstheorien in Deutschland, und was ist davon noch übrig – Stichwort: Impfschäden?
Ja, absolut und gleich in mehrerlei Hinsicht. Man muss zunächst unterscheiden zwischen Fehlinformation, dem unabsichtlichen Teilen einer falschen Info, und der Desinformation, dem bewussten Teilen einer falschen Info. Und dann noch die Verschwörung, also eine Geschichte, in der eine verschworene Gruppe im Geheimen einen üblen Plan verfolgt, der Gemeinschaft zu schaden. Das sind die Bedingungen, die eine Verschwörungstheorie erfüllen muss. Das heißt, wir differenzieren zwischen radikalen Positionen und Verschwörungspositionen und wollen die politischen Ursachen ergründen, da die psychologischen und kommunikationsbezogenen Ursachen schon besser erforscht sind.

"Mangelndes Vertrauen in Staat und Politik"

Hätten es Staat und Politik in der Corona-Zeit besser machen können?
In der Corona-Zeit, in der Bürger extrem verunsichert waren und wo die Skepsis gegenüber Staat und Elite teilweise wuchs, war der Versuch und die Versuchung sehr hoch, sich die Welt mit alternativen Erklärungen, mit Sündenböcken und Halbtheorien zu erklären. In Zeiten einer existenziellen Bedrohung in einer hochsäkularen Gesellschaft, wo Menschen nach tiefen Sinnzusammenhängen suchen und wo früher die Kirchen Antworten gaben, liefern Staat und Politik heute nur "Fünf-Punkte-Pläne" – und das geht eben oft an den Bedürfnissen vorbei. Die Expertensprache wird auch nicht verstanden oder individuell interpretiert und kann natürlich dann leicht von politischen Akteuren via Sozialen Medien instrumentalisiert werden.

Hat das auch etwas mit dem schwindenden Vertrauen in Staat und Politik zu tun?
Die Forschung sagt uns, dass mangelndes Vertrauen in Staat und Politik ein Hauptfaktor ist. Dann kommt in der Extremsituation entweder der Krankheit, des Lockdowns oder der Testpflicht eine emotionale Betroffenheit hinzu, die die Bereitschaft erhöht, sich extreme Ansichten anzueignen. Bei Menschen, die Vertrauen in die Regierung und zumindest zu Teilen des Systems haben, ist das nicht der Fall.

"Wir sehen ein ganz klares Ost-West-Gefälle"

Inwieweit hat US-Präsident Donald Trump mit seinem Hang zu Verschwörungstheorien – Stichwort „Deep State“ – auch in Europa eine entsprechende Mentalität befeuert?
Ganz klar, wir haben vier konkrete Verschwörungserzählungen: Obama, sei nicht in den USA geboren worden und somit eigentlich kein legitimer Präsident; der "Deep State", der Trumps Wirken torpediert; die große Wahlfälschung, auch weil Illegale wählen konnten; und "QAnon", also im Hintergrund agierende liberale Kreise, die üble Verbrechen begehen. Letzteres wurde von Trump selbst nur indirekt angesprochen, aber von Leuten seiner Wahlkampagne stärker bedient.

Würden Sie das Leugnen des Klimawandels als Verschwörungstheorie einordnen oder ist dieses Phänomen wie andere der Tatsache zu verdanken, dass sich für jede noch so abwegige Meinung ein Experte findet, der sie bestätigt?
Um das klarzustellen, jemand, der den Klimawandel abstreitet oder für einen Unsinn hält oder gegen eine klimafreundliche Politik ist, ist kein Verschwörungstheoretiker. Das ist einfach eine rechte oder konservative oder vielleicht radikale Position, aber die gibt es eben in der Demokratie. Es wird dann zur Verschwörungstheorie, wenn ich behaupte, die Umstellung auf E-Mobilität ist ein Komplott Chinas, um Deutschland zu deindustrialisieren, oder wenn ich sage, die Klimawissenschaftler behaupten einen Klimawandel wider besseres Wissen, hegen also finstere Intentionen.

Wie erklären Sie die großen Unterschiede in der Verbreitung der Verschwörungsmentalität in Europa, aber auch die deutlichen Unterschiede zwischen Deutschland und Österreich sowie zwischen einzelnen Bundesländern in diesen Staaten?
Mit einer unterschiedlichen politischen Kultur und unterschiedlichen politischen Erfahrungen. Daher geht es uns ja auch um politische und nicht um psychologische Erklärungen. Ich kann schließlich nicht behaupten, dass die Menschen in Thüringen psychisch anders ticken als die in Bayern. Wir sehen ein ganz klares Ost-West-Gefälle: Je geringer die Erfahrungen mit Demokratie, je höher der Korruptionsverdacht und je schwächer das Vertrauen in das System, desto größer ist die Verschwörungsmentalität. In Skandinavien ist sie eher gering, in Westeuropa am zweittiefsten und in Süd- und Osteuropa am höchsten. In Nordmazedonien sind es 60 Prozent, also fast zwei Drittel der Bevölkerung, die glauben, dass alles geschoben und manipuliert ist, und dass Politiker Marionetten finsterer Interessen sind.

Nicht alle Wähler der AfD hängen diesen Theorien an

Sie stellen eine Nähe zwischen Verschwörungstheorien und Rechtspopulisten auf. Was gewinnen Parteien wie FPÖ und AfD, indem sie solche Theorien wie die vom geplanten "Bevölkerungsaustausch" direkt oder indirekt befeuern?
Das ist der wichtigste Faktor, allerdings darf man daraus keine Fehlinterpretation ableiten. Wir wissen nicht, in welche Richtung die Kausalität verläuft: Suchen sich systemskeptische Menschen systemskeptische Parteien aus? Oder werden eher skeptische Menschen von radikalen Parteien verführt, ganz in Richtung Verschwörung abzudriften? Das ist ein klassisches Henne-Ei-Problem. Man darf auch nicht automatisch davon ausgehen, dass alle AfD- oder FPÖ-Wähler für Verschwörungstheorien anfällig sind. Aber bei Verschwörungstheoretikern ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie die AfD oder die FPÖ wählen, signifikant höher als andere Parteien zu wählen. Man kann auch sagen, dass populistische Parteien mit Verschwörungstheorien agieren.

In den vergangenen Jahren ist die Simulationstheorie immer bekannter geworden, wonach wir nicht in einer Realität leben wie wir sie begreifen, sondern in einer Computersimulation. Würden Sie das als allumfassende Verschwörungstheorie einordnen oder als wissenschaftliche These?
Das wurde ja auch in der "Matrix"-Serie so dargestellt, und Scientology hat sogar eine Religion mit ähnlichen Ideen gegründet. Es gibt jedoch so etwas wie eine Verschwörungsmentalität. Das ist die grundsätzliche Vorstellung, dass die Dinge immer anders sind, als sie scheinen, dass immer im Hintergrund manipuliert wird und nichts zufällig geschieht.

Vielen Dank für das Gespräch.

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