Interview

Tag der Deutschen Einheit: "Ost-West-Unterschiede sind immer noch vorhanden"

Oppositioneller, Aufklärer, Politiker: Gerd Poppe hat das Zusammenwachsen des Landes hautnah erlebt und gestaltet. Der DDR-Bürgerrechtler im AZ-Interview.
Ralf Müller |
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Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 in Leipzig - kurz darauf fiel die Mauer. Doch die Teilung wirkt bis heute nach.
Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 in Leipzig - kurz darauf fiel die Mauer. Doch die Teilung wirkt bis heute nach. © frm/dpa

Am Samstag jährt sich der Tag der Wiedervereinigung zum 30. Mal - Zeit, zurückzublicken und zu fragen: Ist es gelungen, die Menschen zu vereinen? Einer, der das gut beurteilen kann, ist der ehemalige DDR-Bürgerrechtler und Grünen-Politiker Gerd Poppe.

Er war Mitherausgeber und Autor mehrerer in der DDR illegaler Publikationen. 1985 gründete er die "Initiative Frieden und Menschenrechte" (IFM), die er 1989 und 1990 am Zentralen Runden Tisch vertrat. Heute wirkt er maßgeblich an der Aufarbeitung des diktatorischen Regimes in der DDR mit.

Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 in Leipzig - kurz darauf fiel die Mauer. Doch die Teilung wirkt bis heute nach.
Montagsdemonstration am 23. Oktober 1989 in Leipzig - kurz darauf fiel die Mauer. Doch die Teilung wirkt bis heute nach. © imago images / Christian Thiel

AZ: Herr Poppe, welche waren für Sie die stärksten Eindrücke und Ereignisse von Mauerfall und Wiedervereinigung?
GERD POPPE: Besonders erinnere ich mich an die friedliche Revolution, ohne sie hätte es die Einheit nicht gegeben. Ein emotionaler Höhepunkt war in der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 mein erster Besuch in West-Berlin - nach 28 Jahren hinter der Mauer. Von da an begann Teil zwei meiner politischen Biografie: vom Oppositionellen in der kommunistischen Diktatur zum Parlamentarier und Außenpolitiker im demokratischen Rechtsstaat. Eine Vielzahl unvergesslicher Eindrücke: vom Zentralen Runden Tisch über die einzig frei gewählte Volkskammer bis zum ersten gesamtdeutsch gewählten Bundestag.

7 von 10 Punkten für die Einheit

Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie zufrieden sind Sie mit der Art und Weise, in der die Einheit vollzogen wurde?
Anders als manche Medien es darstellen, war die Mehrheit der Oppositionellen für die Einheit. Auch ich sah dazu keine Alternative. Allerdings wirkten manche politische Aktivitäten überhastet, wozu allerdings die schwer beherrschbare Dynamik der Ereignisse beitrug. So kam es zu nachhaltig wirkenden Fehlern. Also vielleicht 7 Punkte von 10.

Was ist gelungen, was ist misslungen?
Gelungen ist die außenpolitische Umsetzung. Die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen NATO-Zugehörigkeit war nicht unbedingt zu erwarten. Und die Unterstützung von Bush Senior, dem amerikanischen Präsidenten, war hilfreich. Weniger glücklich war die innenpolitische Gestaltung. Vieles geschah über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Und Kanzler Kohl ignorierte diejenigen, die am stärksten an der Revolution mitgewirkt hatten und stützte sich vor allem auf die Ost-CDU, die jahrzehntelang nichts als ein Anhängsel der SED gewesen ist.

Welche Fehler wirken nach?
Ich sehe die verfrühte Währungsunion als den größten und zugleich vorhersehbaren Fehler des Jahres 1990 an. Schlagartig verschwanden alle Ostprodukte vom Markt, auch die wenigen noch halbwegs funktionierenden Betriebe brachen zusammen. Massenarbeitslosigkeit war die Folge und eine zunehmende Wanderbewegung von Ost nach West, die ja eigentlich gerade durch die Einführung der D-Mark verhindert werden sollte. In der Folge trug auch die Treuhandanstalt, die allerdings auch viel Sinnvolles geleistet hat, zur Verschärfung der Lage bei, indem sie die Privatisierung um jeden Preis vorantrieb, die Sanierung wenigstens eines Teils der Firmen ausblieb. Die Deindustrialisierung des Ostens ist bis heute nicht überwunden.

DDR-Bürger hätten sich durch Volksabstimmung stärker beteiligt gefühlt

Hätte es eine neue Verfassung gebraucht?
Das Grundgesetz ist eine gute Verfassung, war und ist allerdings überarbeitungswürdig, war 1949 nur als Provisorium beschlossen worden. Die ostdeutschen Bürgerbewegungen setzten sich für eine verfassungsgebende Versammlung ein, wollten die Einheit nicht über den Beitritt nach Artikel 23 sondern gemäß Artikel 146 des Grundgesetzes. Ein solches Vorgehen hätte eine Volksabstimmung zur Folge gehabt, viele DDR-Bewohner hätten sich dadurch wohl stärker am Einheitsprozess beteiligt gefühlt. Retrospektiv wird der Beitritt nach Artikel 23 wegen eines angeblich zu kleinen Zeitfensters als alternativlos dargestellt. Was fragwürdig ist, wenn man sich daran erinnert, dass zum Zeitpunkt der Verfassungsdebatte im Frühjahr 1990 sowohl Kohl als auch der neugewählte DDR-Ministerpräsident die Einheit mindestens zwei Jahre später erwarteten als sie dann zustande kam.

Ost-West-Unterschiede immer noch vorhanden

Wirkt die "Mauer in den Köpfen" heute noch?
Vorurteile und Missverständnisse gibt es noch auf beiden Seiten, aber wohl weniger als vor zehn oder 20 Jahren. Insbesondere haben sich die jüngeren Generationen ihr eigenes Bild ungeachtet der gängigen Klischees machen können. Ost-West-Unterschiede sind immer noch vorhanden, und vielleicht werden sie erst nach weiteren 30 Jahren weniger spürbar sein. Allerdings sind auch Nord-Süd-Unterschiede unübersehbar und auch in den alten Bundesländern sind "abgehängte" Regionen zu finden.

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Warum fühlen sich ostdeutsche Bundesbürger - laut Studie 57 Prozent - immer noch wie "Bürger zweiter Klasse"?
Das hat einen durchaus realen Kern. Im Westen verstehen viele Menschen immer noch nicht, wie unterschiedlich das Leben in der SED-Diktatur im Vergleich zu ihrem vergleichsweise komfortablen Leben gewesen ist. Sie sind materiell deutlich besser gestellt, nur wenige Menschen in den ostdeutschen Ländern sind vermögend oder haben etwas zu vererben. Löhne und Renten sind im Osten immer noch niedriger. Für ein noch ein größeres Problem halte ich die zu geringe Beteiligung an den wichtigen Entscheidungen. 1990 war der Elitentransfer von West nach Ost unumgänglich. Aber auch 30 Jahre danach sind Frauen und Männer aus den ostdeutschen Bundesländern auf allen Führungsebenen deutlich unterrepräsentiert. Sie stellen 17 Prozent der deutschen Bevölkerung, nehmen aber nur zwischen null und drei Prozent von den Spitzenpositionen ein, ob es sich nun um DAX-Vorstände, obere Richter, Generäle, Rundfunkintendanten oder Rektoren von Universitäten handelt.

1990 ging es noch um Belastungen durch zu große Systemnähe sowie um nicht ausreichend vorhandene Qualifikationen. Davon kann heute keine Rede mehr sein. In den sogenannten neuen Ländern Ausgebildete sind ebenso qualifiziert wie ihre westlichen Pendants. Aber sie sind kaum in den Netzwerken vertreten, welche sich die Amtsinhaber aufgebaut haben.

"Ostdeutsche sind kaum in Netzwerken der Amtsinhaber vertreten"

Wie zufrieden sind Sie mit der Aufarbeitung des SED-Unrechts?
Im Vergleich zu den anderen vormals kommunistischen Staaten ist die Aufarbeitung der SED-Diktatur wesentlich umfassender, und sie ist auch viel besser gelungen. Der Bundestag befasste sich in zwei Enquetekommissionen mit ihr, die Stasi-Akten wurden geöffnet, Opfer wurden und werden entschädigt, zahlreiche unabhängige Initiativen und Archive entstanden und erhalten finanzielle Unterstützung für ihre Projekte durch die Bundesstiftung Aufarbeitung. Unbefriedigend blieb die juristische Aufarbeitung. Nur wenige Täter wurden bestraft. Der demokratische Rechtsstaat hatte nicht die Gesetze und Institutionen, um mit den Verbrechen der Diktatur angemessen umzugehen. Für die noch viele Jahre notwendige Aufarbeitung sollte es vorrangig sein, der jungen Generation bessere Kenntnisse über die beiden deutschen Diktaturen des 20. Jahrhunderts zu vermitteln. Verstärkt werden soll auch die Aufarbeitung der Diktaturfolgen und ihrer Überwindung.

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