Medizinethiker im Interview: "Arztpraxen sind keine Restaurants"
München - AZ-Interview mit Wolfram Henn. Der 59-jährige Medizinethiker ist Mitglied des Deutschen Ethikrates.
AZ: Herr Henn, was sagen Sie zu Impf-Vordränglern?
WOLFRAM HENN: Beim Vordrängeln ohne medizinischen Grund werden andere Menschen, die eine Impfung möglicherweise dringender brauchen, aus der wohlbegründeten Reihe verdrängt und in Gefahr gebracht. Das ist moralisch verwerflich und unsolidarisch.

"Einen Sanktionsmechanismen hätte es von Beginn an geben müssen"
Sollte es Sanktionen geben?
Der Fehler wurde schon bei der Festlegung der Impf-Reihenfolge gemacht: Schon damals hätten Sanktionsmechanismen eingerichtet werden müssen. Jetzt ist es aus praktischer Sicht zu spät. Bei den kleineren Schummeleien wird es bei der moralischen Verurteilung bleiben. An der Stelle, wo Dokumente gefälscht werden, wird es eine Sache für den Staatsanwalt. Wenn politische Mandatsträger ihre Stellungen ausnutzen, muss das Urteil an der Wahlurne erfolgen.
Was löst das Drängel-Verhalten bei Nicht-Geimpften aus?
Zurecht Empörung - das Gefühl, Schummeln sei üblich, setzt die Akzeptanz der Gutwilligen herab, sich an die Maßnahmen zu halten. Es wirkt demotivierend.
Ärger gibt es jetzt auch in den Impfzentren. Die Urlaubssehnsucht wächst, einige versuchen, Impftermine zu verlegen.
Man kann nur an alle Impfwilligen appellieren, nicht den Ablauf ins Rutschen zu bringen. Persönliche Wünsche sollten nicht auf den Rücken der Impfzentren oder Hausärzte realisiert werden.
In Bayern wird in Hausarztpraxen die Impfpriorisierung aufgehoben. Welche Vor- und Nachteile sehen Sie?
Die Aufhebung erlaubt Hausärzten individuelle Einordnungen. Gesundheitliche Umstände ihrer Patienten kennen Hausärzte besser, als es feste Regelwerke können. Andererseits versuchen es Schummler dadurch natürlich öfter.
"Eine Hausarztpraxis ist kein Restaurant mit Speisekarte"
Könnte es zu Problemen mit den Impfstoffen kommen?
Ein wesentliches Problem ist, dass die guten und sicheren Impfstoffe von Astrazeneca und Johnson & Johnson nur für die Älteren ab 60 Jahren empfohlen sind. Demnächst wird ein Biontech-Mangel bei den Jüngeren entstehen, vor allem wenn endlich Zwölf- bis 16-jährige geimpft werden können. Ich appelliere an die Älteren, alle für ihre Altersgruppe empfohlenen Impfstoffe zu akzeptieren und nicht auf Kosten der Jüngeren auf Biontech zu bestehen. Soviel Fairness muss sein.
Müssen in Praxen also weiterhin Priorisierungskonzepte gelten?
Ja natürlich, eine Hausarztpraxis ist kein Restaurant mit Speisekarte. Es gibt notwendige Zuordnungen im Sinne aller. Die Ärztinnen und Ärzte haben allen Grund, auch mal klare Kante zu zeigen.
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