Interview

Jean Ziegler im Interview: "Che hätte für Selenskyj gekämpft"

Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler nennt Kreml-Chef Wladimir Putin im Gespräch mit der AZ einen "Massenmörder", zeigt sich beeindruckt vom Widerstand der Ukrainer - und bangt um die Uno.
Natalie Kettinger
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Vom Schauspieler zum Kriegs-Präsidenten: der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj bei einer Videoansprache.
Vom Schauspieler zum Kriegs-Präsidenten: der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj bei einer Videoansprache. © Uncredited/Ukrainian Presidentia

AZ-Interview mit: Jean Ziegler (87): Der Schweizer Soziologe lehrte in Genf und an der Sorbonne.

Er war von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung und von 2009 bis 2019 Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrates, als dessen Berater er bis heute tätig ist. Zudem ist Ziegler Autor zahlreicher Bücher, die in viele Sprachen übersetzt wurden.

Der Schweizer Soziologe und UN-Berater Jean Ziegler.
Der Schweizer Soziologe und UN-Berater Jean Ziegler. © imago images/epd

Ziegler: "Das ist ein unglaublicher Rückschritt in der Geschichte"

AZ: Herr Ziegler, Sie gehören zu der Generation, die den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat. Was empfinden Sie angesichts der Bilder und Berichte aus der Ukraine?
JEAN ZIEGLER: Das ist etwas ganz Fürchterliches - sowohl menschlich als auch von der absoluten Absurdität her. Die ganze internationale Ordnung ist zusammengebrochen: die Solidarität der Staaten, das Völkerrecht, die Uno, das System der kollektiven Sicherheit. Wir sind zurückgefallen in eine Situation, in der nur noch Gewalt gilt. Wir sind wieder konfrontiert mit der Sorge um das nackte Überleben. Das ist ein unglaublicher Rückschritt in der Geschichte.

"Putin ist ein absolut unberechenbarer Diktator"

Die Sorgen vor einem Dritten Weltkrieg sind demnach berechtigt?
Mit so einem wahrscheinlich pathologisch bestimmten Missetäter, einem Massenmörder wie Putin, kann alles passieren - auch ein Atomkrieg.

Wäre all das zu verhindern gewesen?
Putin ist ein absolut unberechenbarer Diktator. Aber er hat seine Verbrecher-Mentalität schon mehrmals demonstriert - ohne, dass der Westen erwacht ist. Nehmen Sie die Tschetschenien-Kriege: Putin war 1999 gerade Ministerpräsident geworden und hat in Moskau zwei Wohnblöcke durch den KGB in die Luft jagen lassen, um das den Tschetschenen in die Schuhe zu schieben. Daraufhin hat er dann Grosny dem Erdboden gleich gemacht. Von den kaum mehr als eine Million Einwohnern Tschetscheniens sind in den insgesamt vier Kriegsjahren über 200.000 ermordet worden - und kein Mensch im Westen hat sich daran gestört.

"Es ist grauenhaft, ein weiterer Vernichtungskrieg"

Wann hat Putin sein wahres Gesicht Ihrer Meinung nach noch gezeigt?
2015 kam die Allianz mit Assad in Syrien. Der Vorwand dort war, er habe die einzige Marine-Basis Russlands im Mittelmeer, also in Latakia, verteidigen wollen. Doch die russische Luftwaffe bombardiert bis heute flächendeckend Idlib im Nordosten und Daraa im Süden, also die Orte, an denen es noch Widerstand gibt. Aleppo wurde zu zwei Dritteln dem Erdboden gleich gemacht. Und in den Vorstädten von Damaskus, die in den Händen der Befreiungsarmee waren, ließ Putin systematisch Spitäler, Schulen und Bäckereien zerstören.

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Welche Strategie verfolgt er damit?
Wenn man die zivilen Infrastrukturen zerstört, fügt man dem militärischen Gegner viel mehr Schaden zu, als wenn man Militärobjekte bombardiert, weil er sich dann um Verletzte kümmern muss. Vor allem, wenn der durch das Völkerrecht verbotene Einsatz von Streubomben hinzukommt, die schreckliche Verwundungen verursachen. Putin verwendet diese Bomben seit 2015 in Syrien - und der Westen hat sich nicht in Entrüstung erhoben. Jetzt tut er genau das Gleiche in der Ukraine: Er zerstört die zivile Infrastruktur, terrorisiert und ermordet die Bevölkerung, und all das in der Hoffnung, die Moral der kämpfenden Truppen falle zusammen. Eine grausame Kriegsführung - ganz abgesehen von dem primären Kriegsverbrechen: dem Überfall auf einen souveränen Staat. Es ist grauenhaft, ein weiterer Vernichtungskrieg.

"Endlich macht die EU eine menschliche Geste!" 

Der bis jetzt schon mehr als drei Millionen Menschen zur Flucht ins Ausland gezwungen hat. Gleichzeitig spricht niemand mehr über den Krieg in Syrien, die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan oder die Geflüchteten, die im Mittelmeer ertrinken.
Diese Tragödie hinter der Tragödie verstört mich unglaublich. Dass die westlichen Staaten jetzt die Menschen aus der Ukraine aufnehmen, dass jedem, der einen biometrischen Pass besitzt, Schutz gewährt wird, ist absolut notwendig - und zu begrüßen. Endlich macht die EU eine menschliche Geste! Aber dahinter geht die ursprüngliche, die permanente Flüchtlingstragödie weiter. Der nicht-europäische Flüchtling wird von den Betonköpfen in Brüssel weiterhin als Gefahr für die europäische Lebensweise angesehen.

Mit welchen Folgen?
Die europäische Grenzschutzagentur Frontex macht immer noch Menschenjagd in der Ägäis, im Zentralmittelmeer ertrinken weiterhin Menschen, weil die EU die Flüchtlingsrettung durch Nichtregierungsorganisationen behindert und stattdessen die libysche Küstenwache - eine Mörderbande - finanziert. Die Lage in den sogenannten Hotspots ist immer noch himmelschreiend. Das sind Gefängnisse unter offenem Himmel, in denen sich Menschen aus Verzweiflung umbringen - auch Kinder. Und die nationalen Grenzschutzkorps, die von Frontex finanziert und kontrolliert werden, haben eine fürchterliche eigene Strategie: Das Europaparlament hat dokumentiert, dass zum Beispiel die Kroaten Menschen die Fingernägel ausreißen, ihnen die Kleidung wegnehmen und sie mitten im Winter zurück in die Sümpfe und Wälder schicken. Diese Tragödie geht unbemerkt und ungehindert weiter.

"Die Preise explodieren. Das wird zu Massakern führen"

Heißt das, die aktuelle Situation schafft Geflüchtete erster und zweiter Klasse?
Natürlich! Das ist Fakt. Menschenjagd, Zurückweisung und Fingernägelausreißen für nicht-europäische Flüchtlinge - offene Grenzen für die europäischen Flüchtlinge, die sich vor diesem monströsen Putin in Sicherheit bringen.

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Der Krieg bringt eine weitere Problematik mit sich: Es ist fraglich, ob die Ukraine noch Getreide liefern kann - und Putin hat den Export von Gerste, Weizen und Roggen aus Russland verboten. Welche Auswirkungen befürchten Sie?
Schon 2018 starb laut World-Food-Report alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren an Hunger oder seinen unmittelbaren Folgen. Die Covid-Seuche hat die Produktion und den Transport von Nahrungsmitteln eingeschränkt. Zu den laut World-Food-Bericht 895 Millionen permanent schwerstunterernährten Menschen sind deshalb noch 265 Millionen weitere Opfer gekommen. Jetzt folgt der massive Produktionseinbruch bei zwei der größten Getreide-Produzenten der Welt. Die Preise explodieren. Das wird zu Massakern führen. In Ägypten etwa ist Fladenbrot für 57 Prozent der Menschen das Grundnahrungsmittel. Nun fällt die Hälfte davon weg. Es wird Hungersnöte geben, Hungeraufstände, auch in anderen Ländern Afrikas wie Algerien - und neue Flüchtlinge, die an den Grenzen der Festung Europa in Stacheldrahtverhaue laufen.

"In diesem Krieg geht es auch um das Überleben der Uno"

Was kann die Welt tun, um diese Spirale aus Krieg und Hunger zu stoppen?
In Kapitel sieben der Uno-Charta sind die Instrumente aufgelistet, die angewandt werden müssten, um die kollektive Sicherheit der Staatengesellschaft zu schützen, wenn einer der 193 Mitgliedsstaaten angegriffen wird.

Welche sind das?
Die Vereinten Nationen haben mit den Blauhelmen zum Beispiel eine 176.000-köpfige Interventionsarmee. 1952 im Korea-Krieg haben Blauhelme die Nordkoreaner bis zur Waffenstillstandslinie zurückgedrängt und die Sicherheit Südkoreas wiederhergestellt. Weitere Instrumente sind wirtschaftliche Sanktionen, die bis zum Total-Boykott gehen können, oder die Einrichtung von Flugverbotszonen. 1991, als Saddam Hussein nach der verlorenen Schlacht um Kuwait die aufständischen Kurden im Nord-Irak bombardiert hat, hat der Sicherheitsrat dort eine No-Fly-Zone eingerichtet. Daraufhin sind Nato-Flugzeuge von den türkischen Basen aufgestiegen, haben Panzer und Flugzeuge, die Saddam Hussein gegen die Kurden losgeschickt hat, zerstört - und das kurdische Volk wurde gerettet. Weiter gibt es humanitäre Korridore unter bewaffneter Uno-Kontrolle, die der Sicherheitsrat beschließen kann. Auch dieses Instrument ist verschiedene Male eingesetzt worden, etwa im Ost-Kongo.

Die Anwendung dieser Maßnahmen scheitert jedoch daran, dass Russland als Ständiges Mitglied ein Veto-Recht im Sicherheitsrat hat.
Die Uno ist gelähmt. Kofi Annan, Generalsekretär bis 2006, hat ein politisches Testament hinterlassen, in dem er Reformen des Sicherheitsrates anmahnt. Die wichtigste war, dass es künftig kein Vetorecht mehr geben darf, wenn es um einen Konflikt geht, in dem Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden.

Genau das wäre jetzt der Fall.
Ja, aber die fünf Permanenten Mitglieder im Sicherheitsrat haben den Vorschlag abgelehnt. Sie wollten sich dieses Instrumentes nicht berauben lassen. Jetzt merkt man, wie wichtig diese Reform wäre. Entweder sie wird jetzt durchgesetzt, oder die Uno bleibt gelähmt - und verschwindet wie der Völkerbund. Es geht im Ukraine-Krieg auch um das Überleben der Uno.

Eine aktualisierte Ausgabe von Jean Zieglers neuem Buch "Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten" ist soeben im Penguin Verlag als Softcover erschienen. Sie kostet 10 Euro.
Eine aktualisierte Ausgabe von Jean Zieglers neuem Buch "Die Schande Europas. Von Flüchtlingen und Menschenrechten" ist soeben im Penguin Verlag als Softcover erschienen. Sie kostet 10 Euro. © Penguin Verlag

Als möglicher anderer Weg, das Blutvergießen zu beenden, wird ein neutraler Status der Ukraine diskutiert. Was halten Sie davon?
Das Wichtigste wäre eine sofortige Waffenruhe - und dann die Entsendung von Uno-Blauhelmen entlang der Waffenstillstandslinien. Würde die Weltöffentlichkeit so die Neutralität der Ukraine garantieren, wäre ich persönlich dafür. Aber eine maskierte Neutralität, bei der die Russen weiterhin die Gewaltherrscher in der Ukraine sind und sie vereinnahmen, werden die Ukrainer natürlich nicht akzeptieren. Im Übrigen finde ich es unglaublich, wie sich Präsident Wolodymyr Selenskyj und das ukrainische Volk verteidigen: All diese Söhne und Ehemänner, die sich an der Grenze von ihren Familien verabschieden und zurückgehen, um zu kämpfen. Das ist herzzerreißend!

Sie waren mit dem argentinisch-kubanischen Freiheitskämpfer Che Guevara befreundet. Vorausgesetzt, er wäre noch am Leben und jung: Hätte er sich Selenskyjs Internationaler Brigade angeschlossen?
Da bin ich mir ganz sicher. Che hätte für Selenskyj und das ukrainische Volk gekämpft.

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13 Kommentare
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  • am 22.03.2022 18:41 Uhr / Bewertung:

    Che hätte sich womöglich besonnen und würde jetzt auf seiner patio sitzen, die Ländereien überschauen, Zigarre rauchen, Schlückchen trinken und meinen, es geht ihm nichts mehr an.

  • Charly Harper am 22.03.2022 18:17 Uhr / Bewertung:

    Wenn es in der UNO kein Vetorecht mehr geben soll dann dürfen sich die USA warm anziehen.

  • Der wahre tscharlie am 22.03.2022 15:06 Uhr / Bewertung:

    Ein hervorragendes Interview von Jean Ziegler. Analyse und Zusammenhänge super beschrieben.

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