Gisela Stuart: Diese Bayerin kämpfte für den Brexit

Am Sonntag spricht die Leiterin der „Vote Leave“-Kampagne und Labour-Abgeordnete Gisela Stuart bei der AZ-Podiumsdiskussion in den Kammerspielen. Hier erklärt sie im AZ-Interview die Gründe für das Brexit-Votum.
München - Vor der Veranstaltung am Sonntag in den Kammerspielen hat Gisela Stuart, Leiterin der "Vote Leave"-Kampagne und Labour-Abgeordnete, mit der AZ über die Gründe für das Brexit-Votum gesprochen.
Die britisch-bayerische Politikerin der Labour-Partei wurde 1955 als Gisela Gschaider in Velden bei Landshut geboren. Mit erst 19 Jahren zog sie nach Großbritannien, um ihr Englisch zu verbessern – und blieb.
1997 gewann die zweifache Mutter erstmals ihren Wahlkreis in Birmingham, den die heute 60-Jährige seither hält. Unter Labour-Premier Tony Blair war sie Staatssekretärin im Gesundheitsministerium. Aufsehen in Deutschland erregte das Engagement der Brexit-Befürworterin bei der „Vote Leave“-Kampagne, die sie zusammen mit dem konservativen Justizminister Michael Gove anführte.
AZ: Frau Stuart, warum sind Sie für den Austritt Großbritanniens aus der EU?
Gisela Stuart: Für die Briten war das eine Entwicklung, die sich über 20 Jahre hingezogen hat. Unser Austritt ist die logische Folge aus Maastricht 1992, als wir sagten: Wir machen weder bei Schengen mit noch beim Euro.
Das müssen Sie bitte einmal genauer erläutern.
Seit der Einführung des Euro gibt es nicht mehr das Europa der zwei Geschwindigkeiten, das eine Weile funktionierte, sondern das Europa der zwei Endpunkte. Auf der einen Seite gibt es die Mitgliedsländer, die dem Euro beigehören und die sich tiefer integrieren müssen, und auf der anderen Seite Länder, die dem nicht beigehören und andere Ansprüche haben.
Und als dann Premier David Cameron nach den langen, harten Verhandlungen im Februar in Brüssel ohne einen Deal zurückkam, der auch weiterhin zwei Arten von Mitgliedstaaten garantiert hätte, war das für mich der Hauptgrund zu sagen: Gehen ist besser als bleiben.
Sie stellen also die Konstruktion der EU in Frage?
Ja. Das Einzige, das Cameron verhandeln konnte, waren zeitbefristete Ausnahmen. Das wäre auf lange Sicht nicht gut gegangen.
Und warum will Großbritannien nicht an einer besseren EU mitarbeiten?
Wir hatten schon einmal versucht, Europa von innen zu verändern, das war während des Europäischen Verfassungskonvents 2001. Wir wollten eine demokratischere und transparentere EU, mehr Kontrolle. Aber das scheiterte. Und das war für mich persönlich der Zeitpunkt, als mir klar wurde, dass sich dieses Europa nicht ändern will.
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Hat David Cameron damit gerechnet, dass die Briten für den Brexit stimmen?
Ich glaube nicht. Ich glaube, er war sich vollkommen sicher, dass er gewinnen wird. Er hat sich verpokert. Und dafür hat er den politischen Preis bezahlt: Er ist jetzt Ex-Premierminister.
Millionen Arbeitsplätze hängen am Handel mit der EU. Viele Firmen – vor allem aus dem Finanzsektor – überlegen, ihre Sitze von London etwa nach Frankfurt zu verlegen. Experten rechnen mit einem wirtschaftlichen Schaden von über 100 Milliarden Pfund durch den Brexit. Und sogar das britische Finanzministerium warnt vor den Folgen. Wie argumentieren Sie dagegen?
Zwei Sachen: Zum einen berichtet jeder nur die Dinge, die in das eigene Argument passen. Die, die sagen, es wird ganz schlimm werden, die sprechen dann nur von den Firmen, die darüber nachdenken, nach Europa zu gehen. Aber wenn dann zum Beispiel die niederländischen Banken Jobs nach London schicken – wie sie es gerade diese Woche getan haben – dann berichtet das niemand.
Zum anderen: Ich habe diese Argumente alle schon einmal gehört. Das war, als es darum ging, ob die Briten dem Euro beitreten oder nicht. Da hieß es beispielsweise: Wenn ihr den Euro nicht wollt, dann werden Firmen nicht mehr bei euch produzieren, sondern nur noch im Euro-Raum. Aber dieser Fall ist nicht eingetreten. Die Deutschen würden sagen: Nichts wird so heiß gegessen, wie es gekocht wird.
Walesa zu Gast bei der AZ-Podiumsdiskussion "Last Exit, Europe" - Sie können dabei sein!Kein Geringerer als Friedensnobelpreisträger Lech Walesa wird den Eröffnungsvortrag halten: Bereits zum dritten Mal bitten die Abendzeitung und die Allianz Kulturstiftung in Kooperation mit den Münchner Kammerspielen und Parlavent zur "Last Exit Europe-Debatte". Die Veranstaltung findet am 23. Oktober um 11 Uhr statt. Hochkarätige Diskussionsteilnehmer dabei sind: Gisela Stuart, Abgeordnete der britischen Labour Party und Brexit-Befürworterin, DGB-Chef Reiner Hoffmann, Basil Kerski (Präsident des Europäischen Solidarnósc-Zentrums in Danzig) sowie Grünen-Abgeordnete Claudia Stamm. Moderiert wird die Veranstaltung von AZ-Chefredakteur Michael Schilling. Gerne können auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, dem legendären Lech Walesa zuhören und die anschließende Podiumsdiskussion live und vor in den Münchner Kammerspielen mitverfolgen. |
All die Warnungen sind doch nicht aus der Luft gegriffen.
Ich sage ja nicht, dass es in den nächsten Monaten und vielleicht auch Jahren während der Brexit-Verhandlungen, in denen Unsicherheit eine Rolle spielt, nicht schwierige Momente geben wird. Aber das sind ja langfristige Entscheidungen eines Landes über dessen demokratische Zukunft. Das ist doch das Wichtige.
Also geht es den Brexit-Befürworter vor allem um mehr Kontrolle. Werden mögliche wirtschaftliche Folgen vielleicht sogar ausgeblendet?
In meiner Erfahrung sind es liberale Demokratien, die wirtschaftlich am erfolgreichsten sind. Viele Brexit-Wähler kamen aus wirtschaftlich schwachen Regionen. Sie sagten: Das Leben ist für uns schwierig, aber die Demokratie ist uns wichtiger.
Beispiel Cornwall: Keine Region in Großbritannien erhält mehr EU-Subventionen. Doch über 56 Prozent der Wähler dort stimmten für den Brexit. Jetzt fordert Cornwall Ersatz-Geld aus London. Ist das nicht widersprüchlich?
Die EU hat ja kein Geld. Das kommt von den Mitgliedsländern. Seit den Thatcher-Jahren bekommen wir für zwei Pfund, die wir einzahlen, nur ein Pfund zurück.
Und was mir Cornwall sagt, sind zwei Sachen. Erstens: Den Leuten ist die Demokratie wichtiger als das Geld. Und das Zweite ist: Den Menschen ist es wichtig, wo die Entscheidungen getroffen werden. Ganz viele Leute sagten, das Geld kommt zwar her, aber für Projekte, die nicht wir entschieden haben, sondern Brüssel.
Ein Kernpunkt der Brexit-Kampagne war die Einwanderung. Inwiefern schützt ein Austritt aus der EU vor mehr Einwanderung?
Für die Leute sind nicht die totalen Einwanderer-Zahlen am wichtigsten. Sie wollen vielmehr ein faires System haben, über das ihre eigenen Politiker – die sie natürlich auch abwählen können – entscheiden.
Debatte, die Dritte! Last Exit Europe
Nach dem Brexit-Votum brach eine Rassismus-Welle über Großbritannien herein. Hat der Wahlkampf also Rassismus befördert?
Ich glaube, man muss mit den Zahlen vorsichtig sein. Das waren teilweise nur Online-Umfragen. Ich möchte zunächst die offizielle Statistik der Polizei abwarten.
Es gab Übergriffe etwa gegenüber Polen, das werden Sie doch nicht leugnen.
Es gab einige. Diese gab es aber auch vor dem Brexit. Nur führt man nach dem Brexit-Votum alles auf die Volksbefragung zurück. Was ja nicht unbedingt logisch ist.
Wie stehen Sie zu Rechtspopulist und Noch-Ukip-Chef Nigel Farage, neben Boris Johnson das Gesicht des Brexit?
Ich habe nichts mit ihm zu tun. Wir waren eine andere Organisation. Wir waren die offizielle „Vote Leave“-Kampagne. Und es gibt so einige Sachen, die Farage macht, die ich unannehmbar finde. Es wäre ein Fehler, die Leute, die für den Brexit abgestimmt haben, mit Farage zu vergleichen.
Manche befürchten, mit dem Brexit beginnt die Auflösung der EU. Glauben Sie das auch?
Nein, das glaube ich nicht. Ich denke aber, dass sich die Kernländer stärker verbinden müssen. Der Kern, das ist ja immer schon das deutsch-französische Verhältnis. Es ist vor allem eine Herausforderung für Deutschland. Deutschland hat zwar wirtschaftlich großen Einfluss, muss sich jetzt aber auf der Weltbühne auch politisch mehr engagieren.
Könnte eine schwere Krise der EU nicht auch Großbritannien schaden?
Auch wenn die Briten für einen Verbleib gestimmt hätten, wäre die EU nicht in einem guten Zustand. Die EU hat Probleme, mit denen sie sich nicht konfrontieren will. Die Arbeitslosenzahlen in den südlichen Mitgliedsländern etwa oder die Situation in Griechenland. Das sind Probleme, die muss man lösen – egal ob die Briten dabei sind oder nicht. Und Großbritannien wird weiterhin ein offenes Land sein.
Diese Woche ist ein bislang geheimer Artikel von Boris Johnson aufgetaucht. Darin listet er Argumente für einen Verbleib in der EU auf. Wenig später wechselt er ins Brexit-Lager. Wie kam es dazu?
Er hat sich die Argumente für und gegen einen Verbleib in der EU angesehen und hat sie durchdacht. Und am Ende hat er schließlich entschieden, dass ein Austritt besser wäre.