Gewerkschafter und Betriebsrat reagieren entsetzt auf CSU-Vorstoß: "Gewaltige Gefahr für Beschäftigte"
München – Vielleicht liegt es an der Einigung der Lokführer, dass Ulrike Scharf (CSU) eine Metapher mit einem Zug benutzt: "Wir sind wirtschaftlich keine Lokomotive, sondern stehen auf der Bremse." Denn auch der GDL ging es um das Thema Arbeitszeit in ihrem Tarifkonflikt.
Die bayerische Arbeitsministerin beschäftigt die Arbeitszeit ebenso – aber anders als die GDL will sie die Arbeitszeit nicht verringern, sondern im Gegenteil Möglichkeiten eröffnen, dass Arbeitnehmer länger arbeiten können. Dringend seien die: "Es droht noch mehr Spaltung, Handlungsunfähigkeit und ein Vertrauensverlust, der schlimmstenfalls in eine Systemkrise mündet."
Arbeitszeit soll verpflichtend erfasst werden: Arbeitgeber riskieren beim Überschreiten hohe Strafen
Ob man gleich so weit gehen muss, Spaltung und Systemkrise an Arbeitszeitregelungen festzumachen, sei dahingestellt. Tatsächlich ist die Regelung in Deutschland derzeit rigide. Derzeit gilt eine Höchstarbeitszeit von zehn Stunden pro Tag.
Im Klartext: Wer länger als zehn Stunden arbeitet, darf das nicht. Im Zweifel drohen Unternehmen Strafen bis zu 15.000 Euro, im Wiederholungsfall sogar Freiheitsstrafen und Haftungsrisiken, etwa wenn Mitarbeiter auf ihrem Heimweg verunglücken. Fakt ist aber auch: Arbeitszeit wird oft nicht dokumentiert. Insofern gilt derzeit die Devise: Wo kein Kläger, da kein Richter. Das soll sich jedoch ändern und verpflichtend erfasst werden. Ein entsprechendes Gesetz ist derzeit in Planung.
CSU-Arbeitsministerin Ulrike Scharf will Wochen-Höchstarbeitszeit statt 10-Stunden-Limit pro Tag
Scharf bezeichnet die momentane 10-Stunden Regelung als "unflexibel". Sie fordert den Bund schon seit mehr als einem Jahr auf, die tägliche Höchstarbeitszeit durch eine wöchentliche zu ersetzen. Das sei nicht nur förderlich für verschiedene Branchen, sondern auch für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Scharf argumentiert mit der Lebensrealität vieler Menschen: "Die Menschen sollen nicht mehr, sie sollen flexibler, entsprechend ihrer Lebensrealität arbeiten können."

Den Vorschlag begrüßt auch Bayerns Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger (FW), mit dem sich die CSU gerne mal hakelt. Es sei eine langjährige Forderung auch von ihm. Wie hoch die wöchentliche Höchstarbeitszeit aussehen soll, teilt Scharf nicht mit. Aiwanger könnte sich 48 Stunden pro Woche vorstellen, innerhalb der Staatsregierung sei man sich da einig.
"Gewaltige Gefahr für die Gesundheit": Deutscher Gewerkschaftsbund Bayern kritisiert CSU-Vorstoß
Unterstützung erhalten beide von der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft. "Ein Verzicht auf die tägliche Höchstgrenze von zehn Stunden führt nicht zu einer Erhöhung des Arbeitszeitvolumens, sondern nur zu mehr Flexibilität bei der wöchentlichen Verteilung", so Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.
Als "gewaltige Gefahr für die Gesundheit der Beschäftigten" sieht hingegen der Deutsche Gewerkschaftsbund Bayern den Vorschlag. "Bei einem Arbeitstag von zwölf Stunden, den sich Frau Scharf wünscht, erhöht sich das Risiko eines Arbeitsunfalls um 80 Prozent, das zeigen Studien, die auch im Sozialministerium bekannt sein dürften", heißt es vom DGB-Vorsitzenden Bernhard Stiedl. Er bezeichnet den Vorschlag gar als "Konjunkturspritze für Arbeitsunfälle und Burnout".
Der Gesamtbetriebsratsvorsitzende bei BMW, Martin Kimmich, warnt ebenfalls vor einer Überlastung. Dadurch werde Deutschland nicht leistungsfähiger, sagt Kimmich der AZ. Es gehe schlicht um Gesundheitsschutz. "Zudem stelle ich in Frage, inwiefern man nach mehr als zehn Stunden geistiger beziehungsweise körperlicher Arbeit noch produktiv und leistungsfähig ist."
Bayerns SPD-Chef Florian von Brunn ist vom Vorschlag nicht überzeugt: "Frau Scharf will unbezahlte Mehrarbeit"
Dass eine Aufweichung der täglichen Höchstarbeitszeit zulasten der Beschäftigten gehen, findet Florian von Brunn. "Es ist gut, dass es das Arbeitszeitgesetz gibt. Es erlaubt genügend Flexibilität. Frau Scharf will längere Arbeitszeiten und unbezahlte Mehrarbeit", sagt der SPD-Chef in Bayern der AZ. Aus der Gastronomie und Hotellerie hört man jedoch, dass eine Flexibilisierung vor allen Dingen Arbeitnehmerwunsch wäre.
"Homeoffice ist in der Pandemie immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Aus unserer Sicht ist die gesetzliche Wochenarbeitszeit die dringend notwendige Antwort für mehr Attraktivität für Arbeitnehmer in Branchen, in denen Homeoffice nicht so leicht umsetzbar ist", sagt Thomas Geppert, Landesgeschäftsführer der Dehoga in Bayern.
Dieser Aspekt steht für ihn im Vordergrund, auch wenn bei der Gastronomie ganz praktische Problemfälle hinzukommen. Etwa wenn eine Hochzeit eben ein bisschen länger geht oder die Busgruppe sich wegen Stau verspätet, aber natürlich dennoch essen möchte. Als pragmatische Lösung, "die unserer Wirtschaft neue Kraft geben und Wohlstand dauerhaft sichern" soll, kündigt Scharf ihren Vorschlag an. In der Tat senkten jüngst die Institute ihre Konjunkturprognose.
Zu viel Arbeit? Psychische Belastung ist laut Studie unter Angestellten stark gestiegen
Aber ist wirklich die Arbeitszeit der entscheidende Faktor, der hier wirksam werden kann? Schließlich zeigen Studien, dass Vollzeitbeschäftigte eher kürzer treten wollen – und nicht nur die Lage der Arbeitszeit ändern. Zudem ist die psychische Belastung berufstätiger Menschen – auch wegen der Arbeit - laut der Kaufmännischen Krankenkasse im ersten Halbjahr 2023 stark gestiegen. Andere Studien zeigen ähnliche Ergebnisse.
Die eingangs erwähnten Lokführer haben immerhin eine Sorge nicht: Ihre Arbeitszeit wird schrittweise auf 35 Stunden abgesenkt – bei vollem Lohnausgleich.