Experte erklärt: Wie aus dem Protest gegen die AfD eine Bewegung entsteht
Berlin/München - Hunderttausende Bürger demonstrieren seit vergangenem Wochenende bundesweit gegen die AfD. Insgesamt sollen bei den Protesten in Deutschland bisher in etwa eine Millionen Menschen teilgenommen haben. Konfliktforscher Jannis Grimm von der Freien Universität Berlin erklärt, wann durch die Kundgebungen eine Bewegung entstehen könnte.
AZ: Herr Grimm, Hunderttausende Menschen haben in den vergangenen Tagen demonstriert – ist das eine neue Dimension des Protests?
JANNIS GRIMM: Das ist ein einzigartiges Event in der bundesdeutschen Geschichte. Das letzte Mal, dass wir so viele Menschen gleichzeitig auf der Straße hatten, war bei den Anti-Irakkrieg-Demos, als in Berlin mehrere Hunderttausend auf der Straße waren. Eine einzelne Kundgebung, die so groß war, war die "Unteilbar"-Demo in Berlin 2018, die sogar einige Parallelen zu den jetzigen Protesten hat. Damals war der Auslöser die Hetzjagden in Chemnitz – also auch rechte Aktivitäten.
Konfliktforscher Jannis Grimm über Proteste gegen die AfD: "Das hat schon eine andere Qualität"
Was ist bei diesen Protesten das Besondere?
Es werden viele Anstrengungen unternommen, dass sich diese Proteste nicht nur auf München, Köln und Berlin beschränken, wo es gar nicht so schwer ist, eine progressive Masse auf die Straße zu bringen. Auch in Kleinstädten, zum Beispiel in Bamberg, wird protestiert. Das ist eine Stadt mit 70.000 Einwohnern, in der dann 6000 Menschen mobilisiert werden – also fast ein Zehntel der städtischen Bevölkerung. Das hat schon eine andere Qualität.

Trotz mancher Organisatoren aus dem linken Spektrum, haben Anhänger aller Parteien mit demonstriert. Wie klappt das?
Wenn man bereits sehr früh zeigt, dass man ein diverses und breites Bündnis auf die Straße bringt und da keine Menschen aus dem bürgerlichen und konservativen Lager von zu starken linken Parolen verschreckt werden, dann schafft das generell mehr Zuversicht in der breiten Bevölkerung. Je nach Stadt und je nach Ort ist das Spektrum unterschiedlich aufgestellt, aber grundsätzlich ist es bezeichnend, dass man von klassischen antifaschistischen Organisationen über die bürgerliche Mitte, unterschiedliche Bevölkerungssegmente dort vereinen kann. Da steckt eine große Schlagkraft drinnen.
Björn Höcke hat bei einer Rede in Thüringen, die Proteste mit den Fackelmärschen der Nazis 1933 verglichen. Zudem warf er Medien Manipulationen an Bildern vor, die die Demonstrationen angeblich größer erscheinen lassen. Was steckt dahinter für eine Strategie?
Das ist ein Versuch, diese Demonstrationen zu entwerten. Wenn man eben einer Partei vorsteht, die meint das Diktum ‚Wir sind das Volk' gepachtet zu haben und dann auf einmal ein großer Teil des Volkes gegen einen auf der Straße ist, dann muss man in irgendeiner Form versuchen, den Diskurs zu ändern, abzulenken oder zu relativieren.
"Das Potenzial ist da": Wie aus den Demos eine Bewegung entsteht
Entsteht bald durch die Proteste eine Bewegung?
Momentan ist es noch keine Bewegung. Dafür muss dort eine gewisse Routinisierung dazukommen und eine Stetigkeit über einen längeren Zeitraum. Aber das Potenzial dafür ist sicherlich da. Ab dem Zeitpunkt, wo Menschen unter einem gewissen Label auf die Straße gehen und nicht mehr unter ihrer Partikularidentität, bildet sich daraus häufig eine kollektive Identität, die auch länger trägt. Das ist nicht so einfach, denn breite Bündnisse basieren oft auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Wenn man von diesem Minimalkonsens weitergehen würde zu größeren Forderungen - zum Beispiel ein AfD-Parteiverbot - birgt das Spaltungspotenzial.
Haben wir den Höhepunkt dieser Demos schon erreicht?
Ich glaube nicht. Ich bin sehr gespannt auf die Folgeaufrufe für Anfang Februar und würde mich nicht wundern, wenn die Proteste dann nochmals größer ausfallen. Viele sehen in diesen Kundgebungen ein Hoffnungszeichen.