„Erinnern ohne Angst“: Gesine Schwan über den 9. November
Am Sonntag ist der wichtigste deutsche Jahrestag. In einer Münchner Rede will die SPD-Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten einen neuen Umgang mit diesem Tag einfordern. Hier erklärt sie, warum.
AZ: Sie werden sich in München über unseren Umgang mit dem 9. November äußern – machen wir da was falsch?
GESINE SCHWAN: Falsch würde ich nicht sagen. Aber manchmal frage ich mich, ob wir unsere Geschichte wirklich dazu nutzen, um aus ihr für die Zukunft zu lernen. An unseren Gedenktagen ist auch viel Ritualisiertes ohne rechten Bezug zur Gegenwart. Ich glaube, dass wir uns noch tiefer mit den Ereignissen unserer jüngeren Geschichte auseinandersetzen müssen. Und die verbinden sich eben ganz stark mit dem Datum des 9. November.
Wo haben wir denn Defizite?
Was wir brauchen, ist Verständnis und Verständigung darüber, was nun eigentlich die Lektion aus all dem ist. Was wirklich geschehen ist bei der Pogromnacht und im Dritten Reich, beim Mauerfall und in der DDR, warum wer wie agiert hat - darüber ist zwar viel gesprochen worden. Aber die wirklich tiefgehende Auseinandersetzung, die ja auch für einen persönlich sehr schmerzhaft sein kann - da haben wir noch Nachholbedarf. Auch in vielen Familien könnte man im Gespräch zwischen Großeltern, Eltern und Kindern noch viel besser lernen, sich und die Geschichte zu verstehen. Angstfreies Erinnern muss aus meiner Sicht das Motto lauten. Ich glaube, die Bereitschaft dazu ist auf allen Seiten auch da.
Wäre dann nicht eigentlich der 9. November der viel passendere deutsche Nationalfeiertag anstelle des 3. Oktober?
Ich gebe zu, dass ich die Entscheidung für den 3. Oktober nie ganz verstanden habe. Natürlich markiert er die staatliche Einheit, doch ob er so stark in der Lebenswelt der Menschen verankert ist wie der 9. November, wage ich zu bezweifeln. Aus meiner Sicht wäre auch ein Feiertag möglich gewesen, der positive und negative Aspekte unserer Geschichte zugleich abdeckt und damit Raum zum umfassenden Nachdenken bietet.
München tut sich mit seiner Nazi-Vergangenheit schwer. Dabei ist es stark belastet, etwa durch den Hitlerputsch vom 9. November 1923.
Ja, und Goebbels hat die Anweisungen zur Reichspogromnacht 1938 von München aus erteilt. Nicht umsonst galt München zwischen 1933 und 1945 als „Hauptstadt der Bewegung“. Aber ich will München und die Münchner nicht an den Pranger stellen. Ich halte meine Rede im Audimax der Münchner Universität, um an die Weiße Rose zu erinnern.
Wie sehen Sie Ihre eigene Zukunft? Nach dem SPD-Debakel in Hessen können Sie ja kaum mehr mit Stimmen der Linken rechnen.
Das glaube ich nicht. Und ich bin insgesamt zuversichtlich. Ich bin ja keine achtzehneinhalb mehr sondern 65 und habe gut 40 Jahre meines Lebens damit verbracht, Politik zu beobachten. Ich weiß also, dass Politik ein ständiges Auf und Ab ist, dass man immer einen kühlen Kopf behalten muss. Und dass alle vier Wochen in der Politik etwas völlig Neues passiert. Die Wahl zum Bundespräsidenten ist etwas ganz anderes als eine Regierungsbildung in einem Bundesland. Sie ist eine Personenwahl, es geht darum, die richtige Person für das höchste Amt im Staat zu finden.
Trotzdem wäre eine Wahl mit Stimmen der Linken doch eine Vorentscheidung für die Bundestagswahl 2009.
Dem widerspreche ich entschieden. Bei der Bundestagswahl gibt es die verschiedensten Möglichkeiten, aber eine Zusammenarbeit der SPD mit der Linken scheidet aus meiner Sicht definitiv aus - weil es die SPD nicht will und die Linkspartei auch nicht. Übrigens sind auch solche Spekulationen ein Beispiel für schlechtes Lernen aus der Geschichte. Man darf nicht Dinge gleichsetzen, die nicht gleich zu behandeln sind. Aber das tun ja leider sogar Menschen, die sich Zeitgeschichtler nennen.
Interview: Frank Müller
Die Rede am Sonntag
"Aus der Vergangenheit lernen heißt Zukunft gewinnen" - so lautet das Motto von Gesine Schwans Rede am Sonntag, 9. November, 11 Uhr, im Audimax der Ludwig-Maximilians-Universität. Veranstalter ist die Friedrich-Ebert-Stiftung, Voranmeldung ist möglich unter Tel. 15 55 52 41 oder bayernforum@fes.de.