"Eine Reise nach München ist immer etwas Besonderes": Ex-Kanzlerin Merkel bekommt Standing Ovations
München - Als die Lesung endet, steht das ganze Publikum – klatscht und pfeift so lange, als wollte es eine Zugabe. Es sind ausgerechnet Angela Merkels eigene Worte, die den Abend auf den Punkt bringen: Der nicht abreißen wollende Applaus hätte selbst so manchem CDU-Parteitag Konkurrenz gemacht.
Der Sturm der Begeisterung mag wenig verwundern, sind die Zuhörer doch allesamt Menschen, die 40 Euro (LMU-Studierende 20 Euro) gezahlt haben, um die Bundeskanzlerin a. D. in der ausverkauften Großen Aula der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München einmal live zu erleben. Autogramme gibt sie an diesem Abend nicht, doch viele haben eine signierte Ausgabe ihrer Autobiografie "Freiheit" auf dem Schoß liegen (noch mal 42 Euro), die auf dem Weg zum Saal zum Verkauf ausliegt.
Merkel liest aus ihrem Buch in München passend zur politischen Weltlage
Barack-Obama-Dimensionen, mit dem ein Selfie auf einer Veranstaltung in Berlin 2023 satte 2500 Euro kostete, erreicht das Ganze zwar noch nicht. Aber die Kanzlerin einmal hautnah mit dem eigenen Smartphone abfilmen zu dürfen, anstatt sie nur durch die distanzierten Linsen der Fernsehkameras zu betrachten, ließen sich einige der Anweisenden trotzdem insgesamt fast 100 Euro kosten.

Mit ihrem blauen Blazer sieht die Ex-Kanzlerin auch so aus, als wäre sie direkt dem Titelbild ihres Buches entsprungen. Knapp eineinhalb Stunden nimmt sie die Zuhörer mit zu den Stationen ihres (politischen) Lebens – kuratiert passend zur derzeitigen Weltlage: Es geht etwa um Papst Franziskus, das Flüchtlingsjahr 2015 und die Beziehung Deutschlands zu Israel.
Merkel würdigt Charlotte Knobloch
Als sie diese thematisiert, würdigt sie vor allem Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, mit der sie zusammen 2008 anlässlich des 60. Jahrestags der Gründung des Staats Israels dorthin reiste.
Außerdem beklagt sie die Hetze gegen Juden nach dem Terrorangriff der Hamas im Oktober 2023, kritisiert aber auch den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu.
Über Papst Franziskus erzählt sie von einem Treffen zum Beginn von Donald Trumps Präsidentschaft, als er ihr im Umgang mit diesem riet: "Biegen, biegen, biegen, aber beachten, dass es nicht bricht." Franziskus beschreibt Merkel als einen Papst, "der die ganze Welt im Blick hatte" – sie denkt, auch Leo XIV. werde das so handhaben.

Die Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 nennt sie "einen Bruch in ihrer Kanzlerschaft". Sie verteidigt ihre folgenschwere Entscheidung, Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland zu holen. "Für mich ging es nicht um einen Strom, sondern um Menschen."
Im Zusammenhang mit der AfD warnt sie davor, den berühmten Franz-Josef-Strauß-Satz, es dürfe rechts von der Union keine demokratisch legitimierte Partei geben, als Einladung zu verstehen, die AfD rhetorisch übertrumpfen zu wollen. Ein Wink in Richtung ihres alten Erzfeindes Friedrich Merz? Womöglich.
Merkel scherzt: "SPD-Kanzler neigen zu vorzeitigen Neuwahl-Aufrufen"
Zwischen jenen politischen Segmenten, in denen Merkel die für sie typische Rolle der bierernsten Staatsfrau einnimmt, witzelt sie aber auch hin und wieder.
Zum Ort der Veranstaltung sagt sie etwa zu Beginn: "Die ersten Bewegungen zur Gründung des Freistaates Bayern wurden hier zwar gestaltet. Leider hat der Freistaat dem Grundgesetz nicht zugestimmt, als es so weit war." Das Publikum lacht, sie fügt an: "Deshalb ist eine Reise nach München auch immer etwas Besonderes."
Brüllendes Gelächter folgt auch, als sie die verfrühte Neuwahl 2005 mit den Worten kommentiert: "Man könnte sagen, SPD-Kanzler neigen zu vorzeitigen Neuwahl-Aufrufen."
Vereinzelt schlägt die ehemalige Kanzlerin auch selbstkritische Töne an: "Ich sprach viele Jahre über mein Leben in der DDR nur mit der Schere im Kopf, ob das, was ich sagen wollte, zu irgendwelchen Verdächtigungen führen konnte." Erst 21 Jahre später, bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt, habe sie das eingestanden.
Merkels Selbstkritik: Politiker sprechen zu unverständlich
Auch den eigenen Politiker-Sprech kritisiert sie: "Wir neigen dazu, Fragen auszuweichen. Minuten zu füllen, um allein schon dadurch die nächste kritische Frage zeitlich möglichst im Keim zu ersticken. Zu oft Phrasen zu verwenden, anstatt verständliche Sätze zu formulieren."
Junge Politikerinnen und Politiker möchte sie ermutigen, weniger Angst zu haben, auf konkrete Fragen konkret zu antworten.
Die Standing Ovations an diesem Abend machen beinahe vergessen, wie durchmischt die Reaktionen auf ihr Buch ausfielen. Vor allem die fehlende Selbstkritik und die überschaubaren politischen Einsichten bemängelten Leser. Trotzdem ist das Buch ein Verkaufsschlager: In nur einer Woche verkauften sich allein in Deutschland 200.000 Kopien.
Dafür ließ sich die Ex-Kanzlerin auch fürstlich entlohnen: Laut der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" soll eine Vorschusssumme im zweistelligen Millionenbereich geflossen sein. Ein nettes Zubrot zu ihrer 15.000-Euro-Pension.