Die Heilung kann Jahre dauern
MÜNCHEN - Schädel-Hirn-Trauma: Wie Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus kämpfen sich auch in München Betroffene zurück ins Leben. Lisa F. konnte nach einem Unfall nichts mehr sehen und kaum laufen. Klaus E. kann nach einem Schlaganfall keine ganzen Sätze mehr bilden.
Es ist der 27. Juli 2008. Lisa F., damals 26, sitzt im Auto, auf dem Beifahrersitz. Plötzlich rast ein Geländewagen in die rechte Seite. Die junge Mutter, die erst sechs Wochen vorher einen Sohn bekommen hat, erleidet ein Schädel-Hirn-Trauma. Durch den Schock kommt es zu einem Herzstillstand. Zweieinhalb Wochen liegt sie im Koma.
Lisa F. erinnert sich nicht an den Unfall. „Das ist eine typische Folge eines Schädel-Hirn-Traumas“, sagt Georg Goldenberg (59), Chefarzt an der Klinik für Neuropsychologie am Klinikum Bogenhausen. Zwischen 500 und 600 Schädel-Hirn-Verletzte werden hier im Jahr behandelt. Einen Anstieg gibt es immer Ende September, wegen Schlägereien auf dem Oktoberfest.
„Dieter Althaus wäre ein typischer Patient für uns“, sagt Goldenberg. Im Schnitt bleiben die Patienten in Bogenhausen einen Monat, viele länger. Dass Althaus im Sommer wieder voll zurück sein will, ruft bei vielen Experten Verwunderung hervor. Zu schwer ist der Kampf der Patienten zurück ins Leben, für viele beginnt ein Therapie-Marathon. Auch in Bogenhausen.
Die Folgen nach einem Schlaganfall, einer Hirnblutung, entzündlichen Erkrankungen oder einem Schädel-Hirn-Trauma: Sprach- oder Gedächtnisstörungen, Einschränkungen im motorischen Bereich, bei der Wahrnehmung. „Besonders schlimm sind Wesensveränderungen“, sagt Goldenberg. „Patienten können total antriebslos, impulsiv oder egozentrisch werden. Manche empfinden ihre Kinder plötzlich als Belastung.“
Klaus E. ist 55 Jahre alt. Im Februar 2008 kommt es bei einer Bypass-Operation zum Schlaganfall. Seither kann der Fotograf keine ganzen Sätze mehr bilden. Neurolinguistiker Ralf Glindemann legt ihm ein Bild von einer Zwiebel vor. „Was ist zu sehen?“, fragt er. „Eine Zitrone, ähh, eine Zwiebel.“ Manche Bilder kann der 55-Jährige beim ersten Mal zuordnen, bei anderen muss Glindemann helfen.
Lisa F. sitzt im Behandlungszimmer von Udo Münßinger. Er ist spezialisiert auf Wahrnehmungspsychologie. Die 26-Jährige hat seit dem Unfall Sehstörungen. „Am Anfang war ich blind“, erzählt sie, „dann habe ich angefangen, wieder punktuell zu sehen“. Die Frau soll beschreiben, was sie auf einem Bild sieht: Eine Kirche, Passanten, eine Frau mit Rucksack, sogar die Zigaretten am Boden fallen ihr auf. Vor einigen Monaten wäre das unmöglich gewesen. „Sie hat sehr große Fortschritte gemacht. Sicher auch, weil sie so einen starken Willen hat, alles alleine zu machen“, sagt ihr Therapeut. Auch motorische Einschränkungen machen ihr zu schaffen. Sie benutzt eine Krücke. Nach einem halben Jahr auf der Station, ist Lisa F. im Januar wieder nach Hause zurückgekehrt. Ihr Freund hat Elternzeit genommen, kümmert sich um das Kind. Viermal in der Woche kommt Lisa F. noch in die Tagklinik.
Bei Sozialpädagogin Ute Kursawe treffen sich vier Patienten, die am Programm zur beruflichen Wiedereingliederung teilnehmen. „Ich arbeite jetzt fünf Stunden täglich, vier Mal in der Woche“, sagt ein 25-Jähriger. Die Rückkehr in den Alltag ist schwer. „Bei nicht so schweren Fällen gilt als Faustregel ein halbes Jahr, bei schweren Fällen kann es Jahre dauern, bis das Gleichgewicht wieder hergestellt ist“, sagt Goldenberg. „Wobei in vielen Fällen Schäden wie Sprach- und Gedächtnisstörungen zurückbleiben.
Lisa F. weiß, dass sie nicht mehr als Hotelfachfrau arbeiten kann, Klaus E. wird sein Geschäft nicht mehr federführend leiten. „Viele Schwierigkeiten treten erst auf, wenn die Patienten wieder im Beruf anfangen“, sagt Kursawe. Etwa dann, wenn sie sich keine Namen mehr merken oder Controller nicht mehr mit Zahlen umgehen können.
Verena Duregger